Anlandungen in Agrigento und Palermo: “Wo ist mein Mann? Helfen Sie mir, bitte!!”
Am Samstag,
25. Juni kamen mit dem Schiff der Küstenwache “Diciotti” 886 Migrant*innen in
Palermo an, unter ihnen ca. 150 Frauen, alle sehr jung, und 96 Minderjährige.
Die aus Nigeria, Gambia, Elfenbeinküste, Guinea und Senegal stammenden
Migrant*innen sind nur einige Stunden in der sizilianischen Hauptstadt
geblieben. Nur 13 kamen aus Eritrea, unter ihnen 3 Mädchen, die sich bewusst
als volljährig ausgegeben hatten, trotz der genauen Informationen, die durch
die IOM* vermittelt wurden.
Die “Diciotti” – Foto: Alberto Biondo
Die
Anlandung war von einem großeb Durcheinander gekennzeichnet, weil das Hauptaukenmerk
auf der Suche nach einem potentiellen Sündenböck lag: dem mutmaßlichen
Schleuser. Zum Schluss wurden mindesten 3 Migranten als mutmaßliche Schleuser
identifiziert und das stellte der palermitanischen Polizei, die eng mit der
Küstenwache und Frontex zusammengearbeitet hat, völlig zufrieden und war ein
weiterer Beitrag zur Ergänzung der ministerialen Statistiken, mit denen Italien
in Europa punkten will. Aus diesen Statistiken geht hervor, dass immer mehr
Minderjährige als mutmaßliche Schleuser festgenommen werden und diese Tendenz weiterhin
steigend ist. In Palermo ist sogar ein Rekord aufgestellt worden, auf den man nicht
stolz sein sollte. Hier wurde der jüngste mutmaßliche Schleuser festgenommen –
ein gerademal Sechzehnjähriger aus dem Senegal, der zusammen mit zwei weiteren
mutmaßlichen Komplizen zur Zeit im Gefängnis sitzt, während andere Verdächtige,
bis weitere Beweise vorgelegt werden, in Aufnahmezentren untergebracht wurden. Die
hohe Zahl an Tatverdächtigen beweist, dass die von Frontex in Zusammenarbeit
mit der Polizei durchgeführten Befragungen nicht das Ziel erreichen den Begriff
„Schleuser“ genauer zu definieren. Wer ist ein Schleuser? Ein krimineller
Schlepper? Ein Mitreisender, der sich dadurch einen Rabatt des Preises für die
eigenen Überfahrt erkauft hat? Ein Mitreisender, der mit Gewalt dazu gezwungen
wurde, das Schiff zu steuern, auf dem er selbst hätte sterben können? Oder der einzige Mensch an Bord, der das
Schiff steuern konnte, nachdem die Schlepper es verlassen haben? Es gibt keine
Gewissheit und oft ist die Grenze zwischen Täter oder Opfer sehr vage. Tatsache
ist jedoch, dass in diesem Fall 5 mutmaßliche Schleuser zur Auswahl stehen, aus
denen der eine wirkliche, echte Schleuser, oder vielleicht doch immer noch nur
der vermutliche Schleuser auserwählt werden muss. Und vielleicht, wie schon so
oft, werden die anderen 4 zu Zeugen.
Anlandungen in Palermo – Foto: Alberto Biondo
Die
Erwachsenen sind in verschiedene italienische Regionen (Lombardei, Toskana, Piemont
und Kampanien) verlegt worden, aber zuerst, aufgrund einer absurden Logik und
des Zufalls (es fehlte der Begleitschutz für die Busse), wurden diejenigen, die
später nach Piemont und Kampanien gefahren werden sollten, ins Polizeipräsidium
gebracht, um dort identifiziert zu werden und sind deswegen erst spät in der
Nacht abgefahren. Auch die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge mussten
zuerst identifiziert werden. Manche waren im Krankenhaus, um sich bestätigen zu
lassen, dass sie wirklich minderjährig sind. Am späten Abend sind sie dann zwischen
Notaufnahmezentren der Caritas und palermitanischen Aufnahmezentren, die schon wegen
der ständigen Geldprobleme völlig am Limit arbeiten und aus denen die
Jugendlichen nach wie vor ausbrechen, verteilt worden (36 Jungen in Palermo und
16 Mädchen in Monreale).
In der letzten
Zeit ereignet sich in Palermo ein neues Phänomen: Unbegleitete minderjährige
Flüchtlinge halten sich auf der Straße oder in der Nähe des Bahnhofs auf, sie
kommen aus anderen Städten nach Palermo und sind wahrscheinlich aus den
Aufnahmezentren, wo sie untergebracht waren, ausgebrochen, aus welchem Grund
auch immer. Auch in diesem Fall gelingt es der Gemeinde nicht, die unbegleitet
minderjährigen Flüchtlinge zu unterstützen und zu begleiten und es sind wieder
Mal die Ehrenamtlichen, die sich persönlich dafür einsetzen, dass die
Jugendlichen nicht in die Fänge der Kriminalität geraten.
Eine weitere
schwerwiegende Problematik bei dieser Anlandung war die Trennung von Familien
(Eltern und Kinder, Eheleute, Geschwister). Die Geschichte, die wir
erzählen möchten, ist die von Lilian (der Name ist erfunden), die mit einem
Neugeborenen ankam und von ihrem Ehemann getrennt wurde, als sie vom Schiff ausstiegen.
Aus gesundheitlichen Gründen kam Lilian als erste vom Schiff und wurde zuerst
von den anwesenden Ärzten untersucht und sofort danach zum Hotspot Milo
(Trapani) gebracht, obwohl sie sich weigerte und auf ihren Mann warten wollte. Als
alle aus dem Schiff gekommen waren, fragte Osman (auch dieser Name ist
erfunden) wiederholt und eindringlich nach dem Verbleib seiner Frau, aber
niemand konnte oder wollte ihm zuhören und so wurde er in die Toskana gebracht.
Borderline Sicilia hat den Hinweis zur Kenntnis genommen und schon eine Anfrage
an das Rote Kreuz gestellt, um die Familie wieder zusammen zu bringen.
Das gleiche
Schicksal hatten zwei Geschwister aus dem Senegal erfahren, die sich aus purem
Zufall in Milo wiedertrafen.
Im Hotspot
in Trapani herrscht Überfüllung, nachdem 500 Migrant*innen dorthin verlegt
wurden und die Situation dort auch zuvor schon extrem prekär war, auch weil
viele Migrant*innen längst in andere Zentren hätten verlegt werden sollen und
das Personal unterbesetzt ist (das Ordnungsamt hat nur 2 Mitarbeiter*innen, die
sich um Migrationsfragen kümmern und die Verantwortung für 3.000 Migrant*innen in
der gesamten Provinz Trapani tragen).
Wie aus den
Zeugenaussagen von Migrant*innen in Palermo und Trapani in den letzten Tagen zu
hören ist, sollen mehr als 100 Migrant*innen aus dem Hotspot Milo geflohen
sein. Diese Migrant*innen sollen mit dem holländischen Schiff von Frontex
angekommen und noch nicht identifiziert worden sein. Sie hätten zuerst
protestiert, weil sie behaupteten, das holländische Militär hätte ihnen ihr Hab
und Gut weggenommen und nicht zurückgegeben. Die Migrant*innen hätten laut und eindringlich
Erklärungen gefordert, die der Betreiber von Milo nicht hätte geben können und
der Protest mündete dann in einen Massenausbruch.
Ankunft in Agrigento – Foto: Alberto Biondo
Bei der
Ankunft in Porto Empedocle mussten 150 Personen von dem Schiff der holländischen
Marine, das nicht bis in den Hafen fahren konnte, erstmal auf die Schnellboote
der Küstenwache umsteigen, die zwischen
Schiff und Kai pendelten. Sie sind dann auf dem Hafengelände mit Wasser und Essen
versorgt und dann zum Polizeipräsidium gebracht worden, wo sie identifiziert wurden.
In Palermo,
wo die Präsenz von Frontex im Hafen immer größer und bedrohlicher wird, wird die
Auswahl der „Wirtschaftsflüchtlinge“ nicht mehr anhand der von ihnen abgegebenen
Erklärungen getroffen, sondern direkt anhand ihrer Nationalität. Übrigens ist
die Lage in Agrigento nicht anders! Es scheint so zu sein, dass bei geflüchteten
Personen aus dem Senegal, Nigeria oder Mali automatisch „Arbeit“
beziehungsweise „Armut“ als Grund der Migration eingetragen wird, obwohl viele
Geflüchtete klar sagen, dass sie Schutz beantragen wollen.
Die Frage
“Wo ist mein Mann?” klingt noch in meinen Ohren nach und das angsterfüllte
Gesicht von Lilian hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Wir wünschen, dass
sie und Osman sich den vielen Hindernissen zum Trotz wiederfinden und wir werden
uns dafür einsetzten, dieses System, das nur Opfer produziert, zu verändern.
Alberto Biondo
Borderline Sicilia Onlus
*IOM: Internationale
Organisation für Migration
Aus dem Italienischen übersetzt von A. Monteggia