Abkommen mit Drittländern, Charterflüge und Inhaftierung: Die Freiheit stirbt im Mittelmeer

Artikel vom 03. November 2022

Das rassistische Vorgehen gegen migrierende Personen wird immer gewaltvoller: zwischen Isolation, direkten Flügen aus der Abschiebungshaft (CPR*), „blitzartige“ Rückführungen und Zurückweisungen ist Sizilien der geopolitische Dreh- und Angelpunkt der sicherheitspolitischen Regierung.

Die Grenzinseln Lampedusa und Pantelleria

Im Zentrum des Mittelmeers haben Lampedusa und Pantelleria nach und nach die Rolle von Pufferzonen übernommen. Diese fungieren, im Rahmen eines Eingrenzungs- und Selektionskonzepts zur Kontrolle der Mobilität, als Orte der Eingrenzung, Erstidentifizierung und Isolierung von Menschen, die gerade erst in Sizilien angekommen sind.

In den Erstaufnahme- und Identifizierungseinrichtungen von Lampedusa und Pantelleria werden sehr ähnliche Segregationsverfahren angewandt: Inhaftierung – gerechtfertigt durch Identifizierungsgründe – Beschlagnahme von Mobiltelefonen und persönlichen Gegenständen, ständige Überwachung bis hin zu Maßnahmen, die kein freies Verlassen der Einrichtung erlauben.

Die Zentren sind nun dauerhaft geschlossen und vom sozialen Umfeld abgetrennt. So wurde in Lampedusa die Militarisierung immer weiter vorangetrieben, bis hin zur Errichtung von Außenmauern, die jeden Ausgang verhindern. In Pantelleria hingegen wird nun systematisch ein Ausgangsverbot verhängt, wobei das Tor stets bewacht wird. Die Unmöglichkeit, mit der Außenwelt über Telefon oder Internet zu kommunizieren, isoliert die Menschen noch mehr und verwehrt ihnen den Kontakt, sowohl mit Familienangehörigen als auch mit Anwält*innen oder Verbänden. Die zeitliche Planung der Identifizierungsverfahren führt dazu, dass die Menschen lange Zeit in der Einrichtung eingesperrt bleiben können, vor allem im Sommer, wenn die Überbelegung zu Situationen der Promiskuität und Vernachlässigung führt.

Während auf Lampedusa seit Jahren ein normalisierterer Hotspot-Ansatz für die Auswahl von Migrant*innen gilt, hat auf Pantelleria lange Zeit ein informellerer Ansatz die Erstaufnahme der Menschen bestimmt. Doch seit dem letzten Sommer wird auch auf Pantelleria die Rolle der Inselgrenze durch die Umsetzung eines strukturierteren Ansatzes bei der Verteilung von Migrant*innen allmählich formalisiert: Das Zentrum wurde um ein neues Gebäude erweitert, das an das Erste-Hilfe-Zentrum in der ehemaligen Barone-Kaserne angrenzt und sieben von der europäischen Agentur EASO bereitgestellte Wohnmodule mit einer Gesamtkapazität von 40 Plätzen umfasst.

Es ist nicht klar, ob auf Pantelleria die Präsenz von Easo und Frontex – die bereits über zwei Container, in denen sie Befragungen durchführt, und sechs vor Ort tätige Mitarbeiter verfügt – weiter intensiviert und verstärkt wird. Klar dagegen scheint zu sein, dass auch auf der Trapani-Seite der sizilianischen Grenze die Ankunftsmanagementverfahren auf einen Ansatz mit größeren Kapazitäten für die erste Auswahl und die Verteilung zwischen „Wirtschaftsmigrant*innen“ und Asylsuchenden hinweisen.

Ein neuer „Krisenpunkt“ entstand im Zusammenhang mit den zunehmenden Ankünften von Menschen aus Tunesien auf Pantelleria. Er hatte häufigere Kriminalisierungspraktiken zur Folge, insbesondere für tunesische Staatsangehörige, die aufgrund der Abkommen zwischen der italienischen und der tunesischen Regierung weiterhin die am stärksten von der Rückführung betroffene Nationalität darstellen.

 

Vom Quarantäneschiff zu den Charterflügen in die Abschiebungshaft

Viele von den Personen, die im Zuge der Rückführung aus dem Staatsgebiet entfernt werden, werden in die Abschiebungshaft abgeschoben, von wo aus sie in ihre Herkunftsländer zurückgebracht werden.

Bis zum vergangenen Mai war der Zwischenschritt vom Hotspot-Zentrum zur Abschiebehaft ein Aufenthalt auf einem Quarantäneschiff, einem GNV-Kreuzfahrtschiff, welches Menschen, die gerade vom Meer angekommen waren, für eine unterschiedliche Dauer in Kabinen isolierte. Das Quarantäneschiff, das offiziell als Instrument zur gesundheitlichen Überwachung der in Italien angelandeten Personen und zur Eindämmung der Ausbreitung von Covid-19 angesehen wurde, stellte ein echtes Grenzdispositiv dar, in dem zwei Jahre lang legale Kanalisierungs- und willkürliche Selektionsmaßnahmen die Abschiebung von Migrant*innen beförderten. Das Quarantäneschiff nutzte die Rhetorik des Gesundheitsschutzes, um in der Praxis dem psycho-physischen Wohlbefinden der inhaftierten Personen zum Nachteil eine Politik der Kontrolle und des Mobilitätsmanagements zu betreiben. Bis zu diesem Zeitpunkt wurden die Menschen direkt nach dem Verlassen des Quarantäneschiffs per Bus oder Flugzeug in verschiedene italienische Städte in die Abschiebungshaft gebracht.

Da die Quarantäneschiffe am 1. Juni 2022 außer Dienst gestellt wurden, ist festzustellen, dass die Zuweisungen der Regierung Charterflugdienste betreffen, die Menschen direkt von Lampedusa aus in italienische Abschiebungshaft bringen. Auf diese Weise wird die Kette der Inhaftierung gestärkt und beschleunigt. Der Direktflug von Lampedusa in die Abschiebungshaft verbindet automatisch die beiden Mobilitätsdrehkreuze und endet mit den Rückführungsflügen nach Tunesien.

Im August wurden Rekordwerte erreicht, wie die Altraeconomia-Studie berichtet: zehn Flüge für über 200 Personen, die direkt von Lampedusa in die Abschiebungshaft überführt wurden. Die Gesamtkosten erstreckten sich über 1,5 Millionen Euro, wenn man die wöchentlichen Flüge für die Rückführung tunesischer Staatsbürger*innen von italienischen Flughäfen nach Tabarka miteinbezieht. Sehr hohe Kosten gibt es auch im Hinblick auf den Schutz der Rechte. Die Leidtragenden sind die tunesischen Staatsangehörigen – die 64 % der Gesamtzahl der Einweisungen in die Abschiebungshaft ausmachten. Sie sehen sich konfrontiert mit halbierten Bearbeitungszeiten für die Prüfung von Asylanträgen und vor allem mit einer Art Automatismus bei der Bewertung der individuellen Geschichten der Menschen.

 

Raum und Zeit des Freiheitsentzugs: Isolation und Freiheitsberaubung

Die gesundheitliche Überwachung durch Covid-19, die Migrant*innen dazu zwang, wochenlang isoliert mitten auf dem Meer zu leben, hat Formen des Freiheitsentzugs und der Verletzung von Grundrechten begünstigt und schrittweise legitimiert. Die Funktion der Inhaftierung zeigt sich nicht nur darin, dass es unmöglich ist, die Einrichtungen zu verlassen, sondern auch in ihrer geografischen Lage und Beschaffenheit. Denn die Einrichtungen befinden sich in der Tat an den Außengrenzen: von den Inseln Pantelleria und Lampedusa über die Quarantäneschiffe, die im Mittelmeer liegen, bis hin zu den Flugzeugkabinen und der Abschiebungshaft. Die materielle Beschaffenheit des Ortes wird funktional dazu genutzt, Migration zu erschweren und „blitzartige“ Rückführungen durchzuführen, die versuchen, ein Eingreifen von außen zu verhindern. Die eben genannten Orte sind für Dritte unzugänglich, das Recht wird außer Kraft gesetzt und jede Form der Überwachung der Situation und des sozialrechtlichen Schutzes ist unmöglich.

 

Abkommen mit Drittländern, NGOs und Schiffbrüche

Der Einsatz von Quarantäneschiffen und Charterflügen in die Abschiebungshaft steht in Kontinuität mit der Funktion des Hotspot-Dispositivs und der europäischen Steuerung der Migration. Ein politisches Regieren, das seine Begründung in der Externalisierung von Grenzen und Abkommen mit Drittstaaten findet. Das italienisch-libysche Memorandum, das in diesen Tagen automatisch um weitere drei Jahre verlängert wird, wenn die italienischen Behörden es nicht kündigen, finanziert seit 2017 grausame, unmenschliche und erniedrigende Behandlung, sexualisierte Gewalt, Zwangsarbeit und Tötungen von Migrant*innen sowie Zurückweisungen auf See und willkürliche Inhaftierungen in libyschen Lagern.

Erwähnenswert ist auch das Abkommen zwischen Italien und Tunesien aus dem Jahr 2020, in dem nicht nur schnelle und halbautomatische Rückführungsverfahren für tunesische Staatsangehörige, sondern auch die Überwachung der Grenzen und die Verhinderung von Abfahrten im Mittelmeer als Gegenleistung für umfangreiche Finanzmittel für die tunesische Regierung vereinbart wurden.

Infolge dieser Politik sind im Oktober zahlreiche Körper leblos in Lampedusa angekommen. Opfer von Schiffbrüchen, die vermutlich von Migrant*innen aus der Subsahara stammten, welche aus der tunesischen Stadt Sfax abgefahren waren. Insgesamt 12 Leichen, darunter mindestens zwei Frauen und vier Kinder. Drei weitere Leichen, wahrscheinlich tunesische Staatsangehörige, kamen nach einem Schiffsunglück am 11. Oktober in Marsala an. Viele dieser Leichen wurden noch immer nicht identifiziert und liegen noch immer in den örtlichen Leichenhallen, andere wurden bereits in der Provinz Agrigento bestattet. Dies geschieht ausgerechnet in dem Monat, der für den 3. Oktober bekannt ist, ein Datum, das landesweit als „Gedenktag für die Opfer der Migration“ anerkannt ist und das sich immer mehr als heuchlerische Feier der italienischen Regierung zum Gedenken an die kollateralen Opfer ihrer eigenen Politik erweist.

In genau diesen Stunden sitzen drei Schiffe – die Humanity1 mit 179 Menschen an Bord, die Ocean Viking mit 234 Schiffbrüchigen und die Geo Barents mit 572 Geretteten – vor der Küste Siziliens auf dem Meer fest und warten auf die Genehmigung der italienischen Behörden, einen Hafen anlaufen zu dürfen. In der Zwischenzeit wird der Gesundheitszustand der etwa tausend auf See festgehaltenen Menschen von Tag zu Tag kritischer und ihre Existenz hängt wieder einmal vom Kräftemessen zwischen den Staaten ab. Vor einigen Tagen erließ der neu ernannte Innenminister Matteo Piantedosi eine Anweisung an die oberste Leitung der Polizei und des Hafenamts, in der er sie über den Stopp für Seenotrettungsboote informierte. Damit leitete er die repressive Linie ein, die die Regierung in Kontinuität mit dem Ansatz des früheren Innenministers Salvini gegen Migrant*innen zu verfolgen gedenkt: das italienische Ministerium für auswärtige Angelegenheiten und internationale Zusammenarbeit sandte eine Mitteilung an Norwegen und Deutschland, die Flaggenstaaten der Humanity und von Ocean Vicking. Darin wurde erklärt, dass das Verhalten der beiden Boote, die im Mittelmeer unterwegs waren, um Such- und Rettungsaktionen durchzuführen, „nicht dem Geist der europäischen und italienischen Verordnungen über die Sicherheit und die Grenzkontrolle sowie die Bekämpfung der illegalen Einwanderung“ entspreche.

 

Sizilien im Zentrum des Kriegs auf dem Meer

Die Verlängerung der Abkommen mit Libyen – das international wegen der schwerwiegenden Gewalttaten verurteilt wird – und die weitere Anerkennung Tunesiens als „sicheres“ Land – in einem Kontext, in dem die autoritäre Regierung von Kais Saied politische Gegner*innen verfolgt und die Meinungsfreiheit kriminalisiert – sind Praktiken, die deutlich machen, dass die italienische Regierung bereit ist, einen sehr hohen Preis, sowohl menschlich als auch wirtschaftlich, zu zahlen, um Migrant*innen aufzuhalten.

Gerade auf Tunesien muss die Aufmerksamkeit gerichtet werden: Seit Anfang des Jahres wurden nach Angaben des tunesischen Verteidigungsministeriums 22.500 Menschen unterschiedlicher Herkunft, die versuchten nach Italien zu gelangen, an der tunesischen Küste von nationalen Militärschiffen abgefangen und blockiert. In diesem Zusammenhang wurde im Rahmen des Grenzverwaltungsprogramms für die Maghreb-Region (BMP Maghreb), in Zusammenarbeit zwischen dem Internationalen Zentrum für Migrationspolitikentwicklung (ICMPD) und dem italienischen Innenministerium, eine Initiative in Höhe von mehreren Millionen Euro gefördert. Diese soll die technischen Fähigkeiten der tunesischen Küstenwache beim Abfangen und Blockieren irregulärer Migration mit Hilfe von militärischer Ausrüstung „stärken“. Diese Maßnahme zielt darauf ab, die Fähigkeit zum „Schutz, zur Überwachung und zur Kontrolle der Grenzen“ zu verbessern und gleichzeitig „den freien Verkehr von gutgläubigen Reisenden und Waren“ zu gewährleisten. Eine Militarisierung der Grenze, die auf logistischer und wirtschaftlicher Ebene durch die 11 Millionen unterstützt wird, die die italienische Regierung Tunesien im Jahr 2020 – zur Verhinderung von irregulärer Einwanderung – als Gegenleistung für die Verstärkung der Grenzkontrollen durch die Umrüstung von Booten der Küstenwache und die Lieferung von Mitteln im Rahmen der Zusammenarbeit mit dem tunesischen Innenministerium angeboten hat. Ziel ist, die Ankünfte zu stoppen und eine immer unüberwindbarere Mauer auf dem Meer zu errichten, wie die Untersuchung von Irpimedia dokumentiert, die den undurchsichtigen Weg der italienischen Finanzierung für Tunesien nachzeichnet.

Italiens politische Linie für die kommenden Monate wurde bereits angekündigt: Ein Stopp der Abfahrten im Mittelmeer und schnelle Rückführungen sind die Voraussetzungen, um den Ansatz der Externalisierung der Grenze in einer zunehmend euro-mediterranen Perspektive der Kontrolle zu festigen.

Der wichtigste geopolitische Knotenpunkt dieser Politik ist nach wie vor Sizilien, ein Ort der Ankunft, Identifizierung, Isolierung und Inhaftierung. An ihm normalisieren und billigen die Behörden in Theorie und Praxis zunehmend die Unterscheidung zwischen „gutgläubigen Reisenden“ und kriminalisierten Migrant*innen, die dazu bestimmt sind, abgewiesen, gedemütigt und dem Tod überlassen zu werden.

Im Zentrum der tödlichsten Migrationsroute der Welt, vor zwei Ländern, aus denen Tausende von Menschen ausreisen, wird der sizilianische Kanal wieder einmal als militarisiertes Szenario dienen, in dem die kriegerischen Anweisungen der Regierungen in die Praxis umgesetzt werden: In Unserem Meer wird ein weiterer barbarischer Krieg mit rassistischer Ausrichtung inszeniert, der – unter dem Klang von Zurückweisungen und Hafenschließungen – diejenigen treffen wird, die weiterhin auf Kosten ihrer Leben die Grenzen überqueren.

 

Silvia Di Meo

Borderline Sicilia

 

*CPR: Centro di permanenza per il rimpatrio – Abschiebungshaft

 

Aus dem Italienischen übersetzt von Laura-Lucia Wiese