Mehr Flüchtlinge, mehr Mauern: Netzwerk Migreurop veröffentlichte seinen zweiten Migrationsatlas
Von Susanne Götze, Neues Deutschland – In Zeiten der Globalisierung gibt es weltweit mehr
Hochsicherheitsanlagen an den Grenzen als je zuvor. Die Organisation
Migreurop dokumentiert in ihrem neuen Migrationsatlas die Wege von
Menschen auf der Flucht und die Asylpolitik der EU. Die meisten Flüchtlinge versuchen weiterhin, über
das Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Die libyschen Passagiere dieses
Bootes haben es auf die italienische Insel Lampedusa geschafft.
Khan ist vor dem Krieg in Afghanistan geflohen. Er war 16 Monate
unterwegs und seine Irrfahrt hat ihn 15 000 Euro gekostet. Über Teheran
und Istanbul schlug er sich bis zur Grenze nach Griechenland durch. Erst
in Europa begann allerdings die wirkliche Odyssee: Nach der
gefährlichen Grenzüberquerung Richtung Athen verbrachte er mehrere
Monate in Asylheimen in Griechenland und Italien, landete in Calais, wo
er von Polizisten misshandelt wurde, und erreichte schließlich
Marseille.
Khan ist kein Einzelfall. Millionen Menschen sind weltweit auf der
Flucht. Jahrelang irren sie durch verschiedene Länder oder bleiben in
Asylheimen eingeschlossen. Das Netzwerk Migreurop stellte gestern in
Paris seinen zweiten Migrationsatlas vor, der die internationalen
Bewegungen von Menschen auf der Flucht dokumentiert. Kein einfaches
Unterfangen, meint der Koautor des Migrantenatlas Olivier Clochard, denn
viele Zahlen gebe es noch gar nicht oder sie seien sehr ungenau. Wie
viele Menschen wirklich jedes Jahr an den Grenzen sterben, sei schwer zu
ermitteln. Auch die Zahl der Menschen in Asylbewerberheimen, würde von
vielen EU-Staaten im Dunkeln gehalten.
Migreurop hat als Dachorganisation aller europäischen
Flüchtlingsorganisationen versucht, die vorhandenen Daten der
verschiedenen Länder zusammenzutragen. Allein 2011 seien geschätzte 2000
Menschen auf dem Weg ins vermeintliche Paradies zu Tode gekommen. Die
meisten Flüchtlinge versuchen immer noch, über das Mittelmeer nach
Europa zu gelangen. Etwa 6000 Menschen haben letztes Jahr laut der
Organisation versucht, mit Booten illegal von Nordafrika nach Sizilien,
Malta oder Lampedusa zu kommen. Dieser neue Höchststand wurde durch die
Flüchtlinge der »arabischen Revolutionen« erreicht, darunter viele
Bürgerkriegsflüchtlinge aus Libyen. Immer mehr Menschen – im vergangenen
Jahr fast 2500 – probieren auch, über Marokko nach Gibraltar zu
gelangen, obwohl die Grenze der spanischen Enklave Melilla als eine der
am besten gesicherten in der EU gilt. Seit 2007 nutzen zudem immer mehr
Flüchtlinge den Landweg über die Türkei nach Griechenland. Deshalb hat
die Regierung in Athen auch begonnen, an der türkischen Grenze eine
Sperranlage zu bauen.
Doch nicht nur in Europa, sondern weltweit gibt es immer mehr Mauern
und Hochsicherheitsanlagen. Migreurop hat seit 1945 die Mauern und
Grenzanlagen gezählt, die aufgrund von Migrantenströmen,
Anti-Terror-Maßnahmen, aus ökonomischen oder Konfliktgründen gebaut
wurden. Mit fast 50 Anlagen schreibt diese Statistik heute ebenfalls
einen traurigen Rekord. Dazu zählen nicht nur bekannte
Hochsicherheitsgrenzen wie die zwischen Nord- und Südkorea, zwischen den
USA und Mexiko oder der Mauerbau in Israel, sondern auch weniger
bekannte neue Anlagen an den Grenzen Indiens und Saudi-Arabiens. Die
saudi-arabische Regierung baute seit den Anschlägen von New York gleich
sechs riesige Sicherheitsanlagen gegen illegale Einwander und
potenzielle Terroristen.
»Wir sprechen immer noch von einer weitreichenden ökonomischen und
finanziellen Globalisierung, aber die Realität ist, dass es immer mehr
reale Abschottung in Form von Betonanlagen und Hochsicherheitswällen
gibt«, beklagt Migreurop-Vertreter Clochard. Ein weiterer Mythos sei,
dass Europa die Nummer eins bei der Aufnahme von Flüchtlingen sei.
Wirtschaftlich schwächere Länder wie Pakistan, Iran und Syrien hätten
jedoch im Vergleich dazu viel mehr Menschen aufgenommen.