Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag junger Mann
Wer Teil des Immigrations-„Sektors” ist, unabhängig von der übernommenen Rolle, hat schon mindestens einmal im Leben Sätze wie „eigentlich gibt es gar keinen Notfall“, „es handelt sich um ein strukturelles Phänomen“ oder auch „der Notfall dient der Konstruktion anderer Gespräche“ von sich gegeben, gehört und/oder zugestimmt. Egal ob Foucault-Anhänger oder nicht. Bei den vielen möglichen Bilderbuchsätzen ist es sinnvoll, dann mit „der Notfall lässt Abweichungen zu…“ abzuschließen, womit ein Aspekt eingeleitet wird, dessen man sich eventuell weniger bewusst ist: Notfall produziert Notfall.
Der Zweite ist real. Die Vortäuschung/Fiktion des ersteren zu erkennen/zu durchschauen schützt nicht vor den Konsequenzen des zweiten. Darauf folgt das Nachdenken, für sich allein, aber eventuell auch kollektiv: Wenn man sich des ersten bewusst ist, wie antwortet man auf den zweiten? Ist es möglich, dessen Auftreten zu verhindern? Und wie viel Zeit benötigt man dafür? Letztere Frage wird nur mit dem genaueren Betrachten eines Problems, dem wir hier nachgehen wollen, klarer: das Problem der Neuvolljährigen. Ein so unglaublich gewaltiges Problem, entschuldigt unsere Ironie, dass sich die Entstehung einer hundertsten Kategorie abzuzeichnen scheint, die genauer gesagt zwischen MSNA* und Erwachsenen einzuordnen wäre.
In der Zwischenzeit enden viele Neuvolljährige auf der Straße.
Und das, obwohl dieser Notfall bereits lange zuvor im Kalender für den ersten Januar 2018 eingetragen war. Werden wir etwas genauer: Sizilien ist der Hauptankunftsort. Die Umverteilung der Migrant*innen auf das gesamte nationale Gebiet hat dafür gesorgt, dass sie dann – zahlenmäßig – nicht mehr die aufnahmestärkste Region ist. Aber das gilt nicht für die Minderjährigen. Die letzten verfügbaren offiziellen Daten, aktualisiert am 30. November 2017, haben gezeigt, dass Sizilien allein 43,9%, der landesweit anwesenden und registrierten MSNA* aufnimmt. Der gleiche Bericht zeigte gleichzeitig auch, dass darunter 60% der „17-jährigen“ des ganzen Landes waren.
Übertragen in Zahlen heißt dies folgendes: am 30. November befanden sich 8.116 unbegleitete Minderjährige in der Region, von insgesamt 18.508 in Italien anwesenden. Von diesen waren 11.106 17 Jahre alt. Auch wenn wir über keine aktuellen Daten verfügen, können wir annehmen, dass viele von ihnen, zumindest auf dem Papier, am ersten Januar 2018 18 Jahre alt geworden sind. Seit Jahren wird, wie an vielen Ankunftsorten kritisiert wird, das Geburtsjahr der Personen notiert und dann willkürlich der 1. Januar als Geburtsdatum angegeben.
Ein offizieller Beweis dieser Praxis lässt sich im Bericht vom 31. Januar 2016 finden, in dem folgendes steht: „Die relative Anzahl an anwesenden Minderjährigen am 31. Januar 2016 ist um 1.300 Fälle geringer, als die Zahl der Fälle am 31. Dezember 2015. Dieser bedeutende Rückgang geht teils auf die Tatsache zurück, dass bei vielen Minderjährigen während der noch ausstehenden formellen Identifizierung als Geburtsdatum der erste Januar des Jahres festgelegt wird. Damit scheiden alle Minderjährigen, deren eingetragenes Geburtsdatum der 01.01.1998 ist, im Monat Januar beziehungsweise beim Erreichen der Volljährigkeit aus der Datenbank aus.“
Den zuständigen Behörden war also bekannt, dass alle 17-jährigen Minderjährigen, deren „formale Identifizierung“ noch ausstand, am ersten Tag des vergangenen Monats 18 Jahre alt werden würden. Aber wie viele der mehr als elftausend im November 2017 Registrierten waren davon betroffen? Und wie viele von ihnen haben die Zentren verlassen? Leider sind wir nicht in der Lage, auf diese Fragen zu antworten, aber wir können einige spezielle Fälle vertiefen und somit den Umständen nachgehen, die Einfluss auf die Gesamtzahl der aus dem Aufnahmezyklus ausgeschlossenen Neuvolljährigen gehabt haben könnten.
Vor allem lohnt es sich, sich an einen möglichen Wahrnehmungsfehler zu erinnern. Der chronische Charakter einiger Lücken im Aufnahmesystem könnte dazu führen, dass es starr und unveränderlich wird. In der Realität ist es aber von einer außergewöhnlichen Flexibilität:
Einweihungen, Schließungen, Winterpausen, Reflexionspausen, Bankrotte und Veränderungen der Verwendungszwecke der Aufnahmezentren sind an der Tagesordnung. Wenn der Aufenthalt der Bewohner*innen im Inneren der Zentren lebensnotwendig für das Fortbestehen oder die Aktivität eines Zentrums ist und wenn das Überleben eines Zentrums wichtiger ist, als die Rechte der dort lebenden Menschen, die eigentlich die Begünstigten sein sollten, dann sehen wir uns einem gefährlichen Kurzschlusssystem gegenübergestellt.
Analysieren wir zum Beispiel, wie sehr sich die Aussicht in den Aufnahmestrukturen für Minderjährige verändert hat. In der nahen Vergangenheit kam es vor, dass die Minderjährigen lange Zeit, aufgrund der Nichtverfügbarkeit freier Plätze in den Folgestrukturen, in den Erstaufnahmezentren blockiert blieben. Viele Institutionsverwalter*innen beschwerten sich über diese Lage, da sie gleichzeitig neue Aufnahmen unmöglich machte und sie zwang, sich mit der Frustration ihrer Bewohner*innen auseinanderzusetzen. In der Tat erinnern wir uns an die unsichere Lage der Aufnahme – zusammenzufassen in reiner Kost und Unterkunft – in den Erstaufnahmezentren, in denen der Dienstweg nicht eingehalten wurde (Tutoren, Erlaubnisse für Minderjährigkeit, eventuelle Instanzen zum internationalen Schutz etc.).
Der nachfolgende Rückgang der Ankünfte und die gleichzeitige Eröffnung zahlreicher Zweitaufnahmestrukturen sorgen heute für konträre Situationen: die Institutionsverwalter*innen einiger Erstaufnahmezentren neigen dazu, die Verlegungen hinauszuzögern, weil sie sonst die Untergrenze zur „Deckung ihrer Kosten“ unterschreiten würden. Dasselbe geschieht in diversen Zweitaufnahmezentren, die nicht für die Verlegungen aktiv werden, und zum Beispiel keine Anfragen an den Zentralservice zum Eintritt in den SPRAR* senden. Andere gehen sogar noch weiter: es kam zu diversen Meldungen gegen Verwalter*innen von Zweitaufnahmezentren, die sich persönlich außerhalb ihrer Provinz und teils sogar außerhalb ihrer Region (in Kalabrien) begeben, um Minderjährige zu suchen, die sie in ihren Strukturen aufnehmen könnten. Dem scheint nicht nur geografisch keine Grenze gesetzt zu sein. Wir haben auch von Zweitaufnahmezentren gehört, die sogar bereit sind, eine Ausgleichszahlung an die Erstaufnahmezentren zu bezahlen, um somit die fehlenden Einnahmen mit neuen Gästen zu decken.
Wir lassen nun weitere Gedanken beiseite, die sonst noch hervorsprudeln könnten und vielleicht auch sollten, und wollen sehen, wie die beschriebene Situation sich auf das Schicksal der Neuvolljährigen auswirkt.
In der Vergangenheit sorgte die Überfüllung der Zentren für Minderjährige generell für die Verlegung der Neuvolljährigen in die CAS* für Erwachsene und/oder in die SPRAR*-Zentren. Nicht das das nicht für Probleme gesorgt hätte. Alle Minderjährigen, die im Inneren der, wie oben bereits beschrieben verwalteten, Erstaufnahmezentren 18 Jahre alt wurden, mussten nach Monaten und teils auch Jahren die Prozedur zur Anerkennung einer Form des internationalen Schutzes für Erwachsene von vorne beginnen, womit sie nicht nur wertvolle Zeit verloren hatten, sondern auch die Möglichkeit, die für Minderjährige geltenden Rechte zu nutzen.
Und was geschieht jetzt? Warum sind dieses Jahr deutlich mehr Neuvolljährige auf der Straße gelandet?
Der Eindruck ist folgender: aktuell betrifft das Problem der verfügbaren Plätze hauptsächlich die Aufnahmestrukturen für Erwachsene. Dies führt zu großen Schwierigkeiten bei den Verlegungen der Neuvolljährigen aus den Zentren für Minderjährige. Der Mangel an Plätzen für Erwachsene, im Vergleich zu der vom Innenministerium vorgesehenen Quote, würde erklären, warum in den westlichen Gebieten in der Region von Palermo mehr Fälle registriert sind. Man könnte teils zu recht einwerfen, dass das Phänomen in Palermo einfach dank des Vorhandenseins einer aufmerksamen und aktiven Zivilgesellschaft stärker wahrgenommen wird. Letztere spielte sicherlich eine wichtige Rolle dabei, die zuständigen Behörden zu alarmieren und ihr Eingreifen zu fordern. Dies ist Mitte des vergangenen Monats vorgekommen, als die zwei Erstaufnahmestrukturen Azad und Elom, verwaltet von dem Verband Asante, die folgende Anzeige an ihren Toren veröffentlichten (auf Italienisch, übersetzt auch in Englisch und Französisch):
Wie vom Ordnungsamt beschlossen, müssen alle Volljährigen, die eine Antwort der Kommission erhalten haben, das Zentrum HEUTE verlassen. Im Folgenden die Namen.
Das Eingreifen der Gemeinde in Form des Stadtrates für Soziales Mattina und vermutlich auch die Aufmerksamkeit der Medien dieses Vorkommnis betreffend, hat für die 14 Jugendlichen das Risiko, noch am selben Abend auf der Straße zu landen abgewendet.
Abgesehen von diesem Einzelfall, auch wenn die am 11. Januar vom Stadtrat Mattina an alle Verwalter*innen von Aufnahmestrukturen für MSNA* versendete Nachricht zum „(…)Veranlassen der Findung von möglichen Lösungen, da man in der Lage ist, das Phänomen konkret zu kennen“, scheint auch die Eröffnung des oben aufgezeigten Satzes „wie vom Ordnungsamt beschlossen“ von Bedeutung. Wir haben keine Notiz von diesbezüglichen Rundschreiben, aber es scheint, als habe das Ordnungsamt von Palermo und dasselbe gilt wohl auch für Agrigent und Trabant, vor kurzem die Gesetzgebung sehr einschränkend ausgelegt. Die einfache Benachrichtigung über das Ergebnis der Kommission wird zur endgültigen Stop für die Aufnahme der Neuvolljährigen in den Strukturen für Minderjährige.
Man fragt sich natürlich, was zu dieser Neuorientierung geführt hat. Entsteht sie aus der Notwendigkeit zu verhindern, dass die Zentren für Minderjährige das Fehlen Letzterer mit der Aufnahme Neuvolljähriger wettmachen? Handelt es sich um den taktlosen und unrechtmäßigen Versuch, den Druck auf die Aufnahmezentren für Erwachsene zu mindern, indem man sich weiterer Gäste entledigt?
Und zu guter Letzt: Wenn das Datum des 1. Januars während des „Wartens auf eine formelle Identifizierung“ verwendet wird, wie ist es dann möglich, dass auch nach der Anhörung durch die Kommission immer noch so viele an diesem Tag geboren sind? Ganze 14 Fälle in zwei angrenzenden Strukturen? Oder kommt es vielleicht vor, dass es beim Fehlen zertifizierter Nachweise des Geburtsdatums bei diesem Scheindatum belassen wird?
Verwendet man in einem solchen Fall nicht ein anderes Datum? Zum Beispiel den 31. Dezember? Das würde auf dem Papier zumindest dem “höchsten Interesse der Minderjährigen” entsprechen.
Elio Tozzi
Borderline Sicilia Onlus
* MSNA (minori stranieri non accompagnati) – unbegleitete Minderjährige
* SPRAR – Sistema di protezione per rifugiati e richiedenti asilo: Schutzsystem für Asylsuchende und Flüchtlinge, kommunales Aufnahmesystem auf freiwilliger Basis (keine staatliche Verpflichtung), ca. 3000 – 3500 Plätze in ganz Italien. Soll zur Integration der Flüchtlinge dienen.
* CAS – Centro di accoglienza straordinaria, außerordentliches Aufnahmezentrum
Übersetzung aus dem Italienischen von Moira-Lou Kröll