Bericht von Lampedusa, 28. September 2011
In diesen Tagen hat es keine weiteren Anlandungen gegeben und die Situation ist in den Augen der Touristen ziemlich ruhig. Lediglich die weiterhin zahlreiche Präsenz von Ordnungskräften erinnert an das, was vor einigen Tagen geschehen ist. Am ersten Abend haben wir eine Mitarbeiterin von ARCI getroffen – gemeinsam mit einem „Kultur-Vermittler“, der uns erzählte, was er in den vergangenen zwei Monaten auf Lampedusa gesehen hat. Er hat sowohl das Zentrum von Contrada Imbriacola als auch die Ex-Basis Loran (Unterbringung für minderjährige unbegleitete Flüchtlinge) besucht und er versichert, dass die Haftbedingungen nicht so schlecht seien.Seiner Meinung nach besteht das Problem in der Negation des Rechts auf freie Bewegung und der Inhaftierung derer, die diese Reisen unternehmen. Aber was die Behandlung im Innern der Zentren betrifft, erzählt er uns, dass die Anzahl der Toiletten proportional der Anzahl der Personen entspräche (es gäbe pro 50 Personen ca. 15 funktionierende Toiletten), dass das Essen so gut sei, dass auch er manchmal in der Mensa mit gegessen habe, dass man versucht habe, den Anforderungen des Ramadan entgegen zu kommen und dass es genügend Zigaretten gäbe. Er berichtet uns zudem davon, dass die Italiener in Tunesien aufgrund dessen, was die tunesischen Emigranten in Italien erleben müssten, nicht mehr mit Wohlwollen angesehen würden, und dass offenbar aus Rache einige italienische Restaurants in Tunis beschädigt worden seien. Nach seinen Aussagen, handele es sich bei allen Tunesiern, die in diesem Jahr in Italien angekommen sind, um Wirtschaftsflüchtlinge. Er habe so gut wie nie überzeugende Geschichten von den Tunesiern gehört, die in diesem Moment ihr Leben aus politischen Motiven riskieren (viele von ihnen erfänden seiner Meinung nach unglaubwürdige Geschichten) – zumindest sei dies sehr rar. Er versichert, dass seine Landsleute, die schon länger in Italien leben, befürchten, dass die neu Ankommenden ihr Image innerhalb der italienischen Gesellschaft verderben könnten, und dass sie deshalb nicht weiter protestierten. Er behauptet weiter, dass es sich nicht um einen Unfall gehandelt habe, wie manch einer versichere, sondern um eine vorsätzliche Aktion, denn etliche junge Leute hätten ihre Tennisschuhe und den Sack mit ihren Sachen in der Hand gehabt, als ob sie fortgehen wollten. (Bezieht sich auf den Brand, die Proteste und die Angriffe auf die Tunesier eine Woche zuvor). Jedenfalls habe man keine Gewalt anwenden müssen, um ein solch fundamentales Grundrecht wie das der Freiheit zu erlangen.
Als wir uns umhören, erfahren wir dass die Mediatoren des Zentrums von Contrada Imbriacola kurz vor dem Brand bedroht worden sein sollen, indem man ihnen sagte, wenn nichts passiere, würden sie etwas „Großes“ anstellen. Zudem sollen im Augenblick des Feuer-Ausbruchs Menschen im Gebäude gewesen sein, die schliefen oder aufgrund von Behinderungen beweglich eingeschränkt waren. Als wir das Zentrum schon wieder verlassen hatten, erzählten uns die Leute, dass jemand den Tunesiern eine Art Falle gestellt habe, indem er einen Laden offen gelassen habe, in dem viele Gasflaschen offen herumgestanden hätten … aber das sind alles lediglich Annahmen…Sie erzählen uns erneut, dass die Tunesier heftig geschlagen wurden.
Wir waren beide Abende beim Festival „O scià“, der Zustrom von Publikum war wie in den vorherigen Jahren unglaublich. Tatsächlich waren die ankommenden Flugzeuge überfüllt mit Menschen aus Sizilien, aber auch aus Norditalien. Fast kein Ausländer. Händler und Handwerker, die in diesem Jahr in geringerer Anzahl angereist waren, beklagten sich, dass keiner einen Cent ausgeben wolle, und einige behaupten, dass dies das Festival mit dem wenigsten Geldfluss gewesen sei, dass sie je erlebt hätten. Am ersten Abend präsentieren sich einige bekannte italienische Sänger, aber keinerlei soziale Botschaft kam von der Bühne, außer vielleicht einem Gedicht, das Beppe Fiorello über Aufnahme und Brüderlichkeit verlas. Laut einem jungen Mann aus der Toskana war das Gedicht eher banal, es hätte keinen Raum für Musikgruppen aus dem restlichen Mittelmeerraum gegeben, wo es doch logisch gewesen wäre, die tunesische Musik kennen zu lernen und auf einen kulturellen Austausch zu zielen, den es in diesem Jahr überhaupt nicht gegeben hätte. So hätte man doch vielleicht das eine oder andere interessante Treffen organisieren können. Seine Stimme wird lebhafter, als er sagt, dass das was geschehen ist – die Schläge, die Steine, die nach den Tunesiern geworfen worden seien, der ums Leben gekommene junge Mann (auf Lampedusa scheint sich die Nachricht verbreitet zu haben, der junge Mann im Koma sei gestorben) – seien alles so gravierende Fakten, dass man auf dem Festival klare und präzise Worte darüber hätte zum Ausdruck bringen müssen. Am nächsten Abend tritt – nach den populären Gesängen aus den Programm von Maria de Filippi und den Worten von Baglioni über das Gedicht, die Humanität und „der neuen Tag, der morgen heraufziehen wird“ – Edoardo Bennato auf, der ein Repertoire von Liedern gewählt hat, die vom Krieg handeln, von Migranten, von den Mächtigen der Erde. Die Lieder werden auf einer großen Leinwand von grausamen Bildern über die Anlandungen, die Bombardierungen, die großen Boote mit leidenden Immigranten an Bord, die Demonstrationen in der arabischen Welt und in Asien begleitet. Die Leute fangen an fort zu gehen (es ist schon nach Mitternacht), aber viele Leute bleiben auch noch und applaudieren seinen Worten. Da ist eine Art kollektiven Schuldgefühls und sich ausbreitende traurige Gefühle in der Atmosphäre zu spüren.Am Ende der Konzerte erinnert ein riesiger Schriftzug daran, dass die Veranstaltung organisiert wurde unter der Schirmherrschaft der Ratspräsidentschaft, der Minister, der Region… aber auch des UNHCR (Hoher Flüchtlingsrat der Vereinten Nationen).
Am ersten Abend haben wir auch mit Vertretern des Vereins ASKAVUSA gesprochen, die uns erzählt haben, dass die Situation für ihren Verein momentan sehr schwierig sei, weil die Lampedusaner die jungen Leute von der Organisation mit misstrauischen Blicken beäugen. Sie ziehen es deswegen vor, erst mal keine weiteren Initiativen zu organisieren, sondern sich zurück zu halten. Sie berichten, dass die jungen Leute versuchen würden, das Zentrum jeden Morgen offen zu halten, was aber schwierig sei, weil sie auch berufstätig seien. Sie haben jedenfalls die Absicht, ein dauerhaftes Museum über Migration zu eröffnen und öffentliche Aktionen für Dezember zu initiieren Sie wissen, dass die Flotte nach Tunesien unterwegs ist und sie erwarten, dass sie auch an Lampedusa vorbeikommen wird. (gemeint ist das Projekt boats4people).Wir haben auch einen Mitarbeiter von OIM (Internationale Organisation für Migration) getroffen, der uns informierte, dass sie auch in nächster Zukunft ein Haus auf Lampedusa haben würden, weil sie davon überzeugt seien, dass es auch nach dem Festival wichtig sei, zu schauen, was passiere.
Viele bleiben stehen, um mit uns darüber zu sprechen, was in diesem Jahr auf Lampedusa passiert ist. Ein junger Sizilianer denkt, dass es eine Regie hinter all dem gebe, die darauf abziele, dass alle Ortsansässigen fortlaufen, damit man dann Häuser und Immobilien zu vernünftigen Preisen kaufen könne. Ein Lampedusaner ist der vielen Worte und der Erfahrung leid, dass sich immer wieder andere über sie lustig machen, er ist der Meinung, dass alle seine Mitbürger und auch alle anderen Italiener keine Steuern mehr zahlen und stattdessen diejenigen in die Wüste jagen sollten, die sie regieren. Das Ortszentrum ist morgens voller Leute, manche reden über die Carabinieri, die die Hotels verlassen haben, aber die Präsenz der Ordnungskräften auf der Insel ist noch immer sichtbar.
Eine Journalistin von Radio Popolare aus Milano hat versucht, in die Basis Loran hinein zu gelangen. Erst hat sie ein junger Mann in Uniform begrüßt, hat sich für Informationen zur Verfügung gestellt, und ihr vorgeschlagen, eine Telefonnummer zu hinterlassen (…), doch dann hat sie ein Vorgesetzter hinaus gescheucht und den jungen Uniformierten beschimpft.
Daniela Caldarella für das Antirassistische Forum Palermo
(aus dem Italienischen von Alexandra Harloff)