Der nächste Skandal des Katastrophenschutzes
von Antonello Mangano
Ausnahmezustand bei den Flüchtlingen: für die 20 000 Flüchtlinge, die im vergangenen Jahr aus Libyen über Lampedusa nach Italien kamen, wurden 500 Millionen Euro nach dem Gießkannenprinzip verteilt. Der Katastrophenschutz hat ein paralleles Aufnahmesystem geschaffen, das er – ohne Ausschreibung – an private Firmen vergeben hat. Es fehlen Kontrollen und in der Region Latium werden die ersten Skandale sichtbar. Eine Reise zwischen Diebereien und anfälligen Strukturen, Migranten, die Schnee schippen, äußerst langsamen Prozeduren, Revolten und Steinwürfen. Die in den Aufnahmelagern beschäftigten Frauen klagen an: “Wir sind Mütter, Freundinnen, Aufpasserinnen” und haben keine gesicherten Arbeitsplätze.
Rom. 500 Millionen Euro. Die Hilfe für den sogenannten „Notstand Nordafrika“ hat die Italiener viel gekostet. Wenigstens bis jetzt. Es funktioniert folgendermaßen: Der Katastrophenschutz ernennt für jede Region einen “Soggetto Attuatore”, eine Person, die ausführendes Organ ist, fast immer ist dies ein Beamter des Zivilschutzes (folglich eine Ämterhäufung), manchmal jemand aus der Präfektur. In der Toskana gibt es 10 solcher “Attuatori”. In Kampanien einen, aber er ist der Referent für Öffentliche Bauarbeiten. Der “Soggetto Attuatore” seinerseits wählt einen “Soggetto Gestore”, einen Verwalter. “Wir sind die Kandidaten der Wahl, weil es ein eiliges Verfahren war”, erklärt Claudio Bolla, der Leiter des Konsortiums “Eriches”, das einige Aufnahmelager in Latium verwaltet. “Die Organisationen haben verfügbare Stellen angefragt. Wir, die man schon kennt, haben unser Angebot gemacht. Den Löwenanteil haben die katholischen Organisationen, wir sind aus dem Umfeld der Pd (der Demokratischen Partei). Wir haben eine Geschichte, sind vor Ort bekannt, angesehen. Es war selbstverständlich, dass wir gefragt wurden, ob wir Leute zur Verfügung stellen können. “
Jeder Migrant kostet 42 Euro am Tag, Minderjährige 80 Euro. An die Afrikaner wurden lebensnotwendige Dinge verteilt und ein Taschengeld von 2.50 Euro pro Tag. Oft werden sie in Form von Gutscheinen ausgezahlt, die nur in den Geschäften angenommen werden, mit denen der Verwalter eine Vereinbarung getroffen hat. Der Ausnahmezustand müsste eine vorläufige Aussetzung der Prozeduren, Kontrollen und Garantien sein, damit es zu einer schnellen Problemlösung kommen kann. In Italien ist das nie so. In dem System der Notfallhilfe sind alle – ausgenommen die Migranten – objektiv daran interessiert, den Aufenthalt der Migranten zu verlängern. “Die Tage vergehen zwischen Langweile und Anspannung wegen der Ungewissheit über die eigene Zukunft”, erzählt uns ein Angestellter aus Latium. “Es gibt eine Reihe aggressiver Verhaltensweisen zwischen den Migranten untereinander und mit uns, die sich abwechseln mit den infantilen Verhaltensweisen desjenigen, der sich an Hilfeleistung gewöhnt.” Die Migranten warten darauf , wie die “Kommissionen” über ihren Asylantrag entscheiden. Mehr als die Hälfte hat schon einen Ablehnungsbescheid erhalten. So entstehen Tausende Illegaler, die keine Möglichkeit zur Wiedereingliederung haben.
Trotzdem hat die Regierung vor einigen Tagen ein neues Dekret bezüglich der saisonbedingten Zuwanderungsströme vorgestellt: offene Türen für 35 000 neue Zuwanderer. “Die Antwort kommt dann in sechs bis sieben Monaten”, erklärt Bolla. “Wenn Berufung eingelegt wird, vergehen weitere drei Monate. Wenn man die Ämter fragt, sagen sie: Die Hilfsorganisationen, die mit der Aufnahme befasst sind, bereiten ihre Dokumentationen nicht schnell genug vor. Unsere Jungs hingegen werden von einer qualifizierten Arbeitsgruppe unterstützt und im Laufe von sechs Monaten liegt die erste Antwort vor.” Währenddessen folgen die Opcm (Ordinanze della presidenza del consiglio dei ministri – die Anordnungen des Vorsitzenden des Ministerrats) aufeinander. Die erste wurde von Berlusconi am 12. Februar 2011 unterschrieben, die letzte von Monti am 30. Dezember 2011. Jede einzelne hat ein paar Millionen in die Kassen des Katasrophenschutzes gebracht, aber auch zur Finanzierung undurchsichtiger Abkommen zwischen Italien und Tunesien beigetragen sowie die Kosten des Verteidigungsministers für Sicherheitsmaßnahmen und Dienstreisekosten von Soldaten gedeckt. Sogar Schiffe, die im Meer um Lampedusa patrouilliert sind, wurden mit diesen Geldern finanziert.
Der Ausnahmezustand wurde bis zum 31.Dezember dieses Jahres verlängert, auch wenn der Krieg in Libyen seit einiger Zeit beendet ist und keine Massenankünfte mehr registriert werden. Der durchschnittliche Italiener denkt, dass diese Gelder dazu dienen, die Ausländer zu unterstützen. Keineswegs, denn die Proteste der Migranten, die alle möglichst schnell über ihr zukünftiges Schicksal Bescheid wissen wollen, sind zahlreich. Es gibt gewaltsame Aufstände in den Aufnahmezentren von Bari, Crotone und Mineo (mit Straßenblockaden und Steinwürfen) und Spannungen in Falerna und Cetraro, in Kalabrien. Selbstverständlich protestieren nicht die, die von diesem System profitieren.
Viele haben den Verdacht, dass die Aufnahmelager, in denen minderjährige Asylsuchende untergebracht sind, zu einem Business geworden sind. Es ist nicht einfach, das Alter eines Afrikaners zu bestimmen. Es soll – vor allem in Latium – Ämter geben, die die Zahl der Minderjährigen erhöht haben, um das doppelte Tagegeld, das für solche Fälle vorgesehen ist, einzustreichen. Im Netz der Hilfsorganisationen finden wir auch Leute, die ernsthaft und kompetent arbeiten. Aber die Verwaltung ist nur auf ihren Vorteil bedacht und die Abwesenheit von Kontrollen scheint geradewegs dazu gemacht zu sein, um die Unehrlichen zu begünstigen. Die Überprüfungen sind größtenteils dem “Kontrollteam” des Katastrophenschutzes anvertraut, “das verpflichtet ist, einige Aufnahmestellen zu besuchen”. Die Kosten berechnen sich mit einer Excel-Tabelle. “Notfall bedeutet, dass der Unternehmer machen kann, was er will”, sagt ein anderer Angestellter. Alles ist legal, auch weil die normale Gesetzgebung außer Kraft gesetzt ist. Die Juristen nennen das “Ausnahmezustand”. Im Vergleich zu den Zeiten Bertolasos hat der Katastrophenschutz sich nur teilweise geändert.
Es bleiben die Notfallsituationen und das Umgehen der Regeln, aber die Gelder werden nach dem Gießkannenprinzip statt “nach dem Prinzip der Vetternwirtschaft” verteilt. Sozusagen ein Antikrisenmanöver zugunsten der Hotelbesitzer, der arbeitslosen Akademiker, der Sozialarbeiter. Der bisher schlimmste Fall ist uns aus Roccagorga bekannt. Wir sind in der pontinischen Ebene: sechsundvierzig Einwanderer waren auf 90 m2 unter schlimmsten hygienischen Bedingungen eingepfercht”. “Latina come Rosarno” , schrieb das Lokalblatt (Latina, die Hauptstadt der pontinischen Ebene; Rosarno, eine Gemeinde in Kalabrien. Der Titel stellt einen Vergleich her zwischen der Situation in Latina und den großen Unruhen, die 2010 in der Gemeinde Rosarno zwischen Migranten und lokaler Bevölkerung stattfanden.). Sie konnten einen Teller Reis am Tag essen und hatten keine medizinische Versorgung. Die zuständige Stiftung hatte die üblichen 42 Euro Tagegeld für jeden Flüchtling zur Verfügung, gab aber nur etwa 5 Euro aus. Die unterschlagene Summe betrug ungefähr eine Million Euro. Nach einem Hinweis der Kontrollbehörde des Ministeriums und des Katastrophenschutzes starteten die Carabinieri einen ersten Blitzangriff im Sommer 2011, um dann fünf Personen im letzten Januar festzunehmen. Unter ihnen den Vorsitzenden der Stiftung, Gemeinderatsmitglied der Pdl (Il Popolo della Libertà) in Sezze.
In diesen Monaten wurden die Flüchtlinge wie Spielfiguren von einer Wohnung in die andere gesetzt, ohne dass die Vereinbarung aufgehoben worden wäre. Zu den Ermittlungen kam noch der Versuch einer politischen Eingabe dazu. Die Flüchtlinge wurden in ganz Italien verteilt, von den Dolomiten nach Pollino. Von Sila in verlassene kalabresische Dörfer. Von der Ebene von Catania in das Umland Roms. Vom Hinterland Mailands in die Städte des Veneto. Sie nennen sie die Libyer, auch wenn sie im Süden der Sahara zur Welt kamen. Sie arbeiteten im Land Gaddafis, bis der Krieg sie zur Flucht zwang. Sie wurden in Wohnungen und Villen untergebracht. Und oft in Hotels. “Wenn der zur Verfügung stehende Wohnraum nicht ausreichend war, wandte sich der “Soggetto Attuatore”, normalerweise mittels des Hoteldachverbands Federalberghi an private Stellen, die die gleichen Dienste wie die Organisationen garantieren konnten, die gewöhnlich die Migranten aufnahmen”, sagt der Katastrophenschutz der Zeitung Linkiesta. “Sie haben ein paralleles Aufnahmesystem geschaffen und zwar ein weniger gutes. So kommentiert eine Angestellte eines Zentrums für Asylsuchende das Vorgefallene. Der damalige Innenminister Maroni sprach von “einer Invasion biblischen Ausmaßes”. Es wurde ein Plan für 50 000 Flüchtlinge aufgestellt. Heute sind in Italien etwa 21.257 Flüchtlinge (in Tunesien sind es 290 000). Der Ausnahmezustand wurde ausgerufen, als das offiziell vorhandene Aufnahmesystem seinen Bedarf gedeckt hatte.
Aber es handelt sich um einen Teufelskreis: gerade die langsamen Prozeduren schaffen einen gesättigten Markt. Das Problem betrifft auch die italienischen Arbeiter. Viele Angestellte fühlen sich, nach einem langen Studium, durch die befristeten Stellen gedemütigt.
Wir gehen in ein Aufnahmelager in der Nähe von Tivoli. Dort treffen wir eine Angestellte. Sie möchte anonym bleiben, da ihre Arbeitsstelle zwischen ihrem Honorar als freie Mitarbeiterin und einem projektgebundenen Arbeitsvertrag an einem seidenen Faden hängt. “Wir sind hoch qualifiziert, aber unsere Kompetenzen nützen nichts”, erklärt sie. “Die Arbeit, die wir machen sollen, ist die von Aufsehern. Nicht zufällig sind die, die mit uns in unserer Aufnahmestelle arbeiten, in erster Linie männlich, sprechen kein englisch und haben kein Interesse daran, die Probleme der Asylbewerber zu regeln.” Die regionalen Abkommen sehen für die Asylbewerber eine Basisversorgung vor (medizinische Versorgung, kulturelle Mediation etc.). Aber nur theoretisch. In einer anderen Aufnahmestelle sagt man uns, dass die Angestellten befreundete Ärzte, Rechtsanwälte oder Lehrer bitten, freiwillig zu helfen, um sie zu unterstützen. Jemand hat beschlossen, sich zu engagieren: “Über unsere Rollen als Mütter, Schwestern, Freundinnen und Aufseherinnen hinaus sind wir auch Ärzte, Rechtsanwälte, Lehrer und Psychologen.”
“Es wäre ein gutes Zeichen, wenn man sich nützlich machen würde für das Land, das einen aufnimmt.” Mit diesen Worten lud Romano La Russa während einer Schneekatastrophe 3000 Asylbewerber in Lombardien ein, sich mit Schneeschaufeln auszustatten und zu helfen, die Straßen vom Schnee zu befreien. Das Recht auf Asyl ist ein internationales Recht, das von der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt ist und kein Geschenk, für das man sich revanchieren muss. Der Vorschlag des Bruders von Ignazio la Russa, dem Leiter des Katastrophenschutzes auf regionaler Ebene, war insofern nur hypothetisch, als er nach polemischen Auseinandersetzungen begraben wurde. Vor den Toren Roms ist das jedoch wirklich passiert, drei Tage lang, Anfang Februar. “Die Asylbewerber, die zwischen Tivoli und Marcellina Schnee schippten, taten es freiwillig”, sagt uns ein Verantwortlicher der Aufnahmestellen. “Die lokale Bevölkerung hat die Migranten nicht besonders gut aufgenommen. Wir haben die Jungs gefragt, ob sie uns helfen wollen und sie taten es gerne. Wir haben die Arbeitsstiefel und die Schaufeln gestellt, dann gefragt, ob jemand den Jungs was schenken möchte… Ich weiß, dass sich jemand darum gekümmert hat, sich zu bedanken. Wir haben sie außerdem eine Erklärung unterschreiben lassen, dass die Arbeit freiwillig war. Denn Arbeiten ist für diejenigen absolut verboten, die den ungesicherten Status eines Asylbewerbers haben. Das wäre ein Grund dafür, als Asylbewerber nicht anerkannt zu werden.”
Artikel von Antonello Mangano
http://www.linkiesta.it/emergenza-profughi-protezione-civile
Aus dem Italienischen von Jutta Wohllaib