„Shufna el mut“ – Wir haben den Tod gesehen

Und wir suchen einen Ort, an dem wir neu beginnen können …

Die Situation der MigrantInnen in Catania. Ein Bericht von Chiara Denaro.

In manchen Augenblicken des Tages ist der Bahnhof von Catania voll mit syrischen Familien und Kindern. Weniger Meter entfernt auf derselben Wiese andere Kinder, unbegleitete minderjährige Ägypter – ganz alleine. 9 bis 14 Jahre alt, aber wenn man sie reden hört, sind es kleine Männer. Schüchtern. Nur wenige Worte. „Wo willst Du hingehen?“ „So Gott will, nach Mailand“, antworten sie und imitieren die Stimme von Erwachsenen.

Wieder einige Meter weiter, MigrantInnen vom Horn von Afrika, Somalis oder Eritreer, weitere Frauen, weitere Neugeborene, alle haben noch die Kleider an, die sie bei der Anlandung trugen und sie haben den Geruch von Salz noch an sich. Sie tragen Badelatschen und Trainingsanzug, alles rot und blau.

Sie warten auf die Züge, die Flucht, einen Weg weg von hier. Die Minderjährigen träumen von Mailand, die EritreerInnen von Rom oder Deutschland, die SyrerInnen von Schweden, Norwegen oder Holland. Alle haben sie das Meer überquert, von Ägypten aus oder von Libyen und erzählen unterschiedliche Dramen, die sich im Grunde alle ähnlich sind.

„Shufna el mut“, ist der Satz, der jedem über die Lippen kommt: „Wir haben den Tod gesehen.“

Sie erzählen von Booten, die zerbrochen sind, anderen ist der Motor krepiert, wieder andere sind von größeren Schiffen gerammt worden, zerstört und abgesoffen. Wieder andere Schiffe wurden auf hoher See von libyschem Militär angehalten, ans Ufer zurückgeführt; die Passagiere ausgeraubt und eingesperrt. „Wir sind zwei Mal aufgebrochen, erzählen Nessrine, Mohammad, Inas und Ayman. „Das erste Mal, als wir auf halber Strecke waren, hat sich uns ein libysches Schiff genähert und militärisch gekleidete Leute mit langen Messern haben uns alles geklaut: Geld, Telefone, in manchen Fällen auch Hosen und Schuhe. Dann haben sie uns zum Ufer zurückgebracht und ins Gefängnis gesteckt. Dort sind wir eine Woche verblieben bevor es uns gelungen ist, die Reise wieder zu versuchen.“ Und noch andere Schiffe, wie das von Yahya und seiner Frau Leyla, die SOS gemeldet haben und nach drei Tagen des Wartens kam die Rettung für sie. Einzelfälle? Sie haben sich am falschen Ort befunden. Sind in „die Koordinaten der Untätigkeit“ gestolpert, Gegenstand des Disputes zwischen Italien und Malta, seit mehr als einem Jahrzehnt. Mohammed, Maysun und ihre drei Kinder, die aus Ägypten stammen, erzählen von 14 Tagen auf dem Meer. „Wir haben gedacht, wir würden sterben und es ist ein Wunder, dass wir gerettet wurden.“

Der Empfang in Catania geschieht komplett durch ehrenamtliche Mitarbeiter.

Einzelne Personen mit unerschöpflicher Energie tun seit Monaten mehr als in ihrer Macht steht.

Sie begleiten diejenigen, die unversorgt ankommen, kaufen Wasser für die Menschen, Essen, Windeln, Telefonkarten, Kleidung und Schuhe.

Am 22. Mai ist ein Herr in Unterhosen angekommen, gemeinsam mit einer Gruppe von Barfüßigen. Schuhe und Kleider in Libyen verloren, darin den Verkaufserlös von allem, was er besessen hat: Haus, Auto, Geschäft. Einfach Alles.

Am 23. Mai, auf einem ähnlichen Schiff, ein junges Mädchen, 14 Jahre alt und eine Frau von 72 Jahren: „Ich habe Syrien nach dem Tod meines Mannes und meiner drei Söhne verlassen“, sagt Maryem, „ich bin nach Ägypten gegangen, um eine ruhiges Leben zu suchen. Ich war dort ein Jahr, bevor sie mich verhaftet und ins Gefängnis geworfen haben. Als ich da wieder raus war, habe ich beschlossen wegzugehen, weil ich nichts mehr zu verlieren hatte. Ich glaube nicht, dass ich noch viel Zeit vor mir habe, und die Zeit, die ich noch habe, möchte ich unbeschwert leben.“

Es handelt sich um einen alltäglichen Durchlauf, von dem kein Bericht die Tragweite wiedergeben kann. Es beginnt früh morgens: erst 3, dann 6, dann 2, dann 5, dann 4 und plötzlich ist man bei 50 angekommen.

Am 7. Mai ist ein Zug mit ungefähr 60 Personen abgefahren, von denen wenigstens 20 Frauen und 40 Kinder waren. Hier begrüßt man sie alle, hier ist man gerührt, man gibt ihnen die besten Wünsche für ein unbeschwertes Lebens mit auf den Weg und man sucht einen Platz, an dem sie sich ausruhen können. Keine Zeit, einen Kaffee zu trinken. Andere kommen an. Seid ihr SyrerInnen? Und es beginnt von neuem. Weitere 30. So geht es seit ungefähr einem Jahr.

Dreiviertel von ihnen sind Frauen, Jugendliche und Kinder, noch viel zu klein. Viele Neugeborene, von 14 Tagen bis drei Monaten, 5 Monaten, 8 Monaten mit Geschwistern von weniger als 10 Jahren.

Sie essen Schnellgerichte auf der Wiese, und sie erzählen sich Geschichten über Geschichten, über das Erlebte ihrer Reisen. In ihren Unterhaltungen kommt Syrien vor, das sie vor fast einem Jahr verlassen haben, Homs, Damaskus, Haleb und viele andere Städte, den Westlern unbekannt, alle gleichermaßen zerstört. Jeder geht sein Abenteuer noch einmal durch, von Jordanien, Ägypten, Libyen bis zum „qareb el mut“, dem Schiff des Todes, mit 420, 470, bis 505 Personen an Bord, angelandet am 6. Mai.

Zu starke Wellen haben einen Passagier zu Fall gebracht, der hat sich am Nachbarn festgehalten, der hat das Gleiche getan: Drei unerwartete Tote. Niemand drehte um, um sie wieder aufzunehmen. Die übrigen 400 blieben im Boot und verfolgten das Geschehen, von Todesangst gelähmt, die ihnen den Atem nahm.

Dann die Militärschiffe, man stieg langsam hinauf, dort setzte man sich, in Sicherheit. Man aß ein hartgekochtes Ei oder einen Teller Nudeln, und man trank eine Flasche Wasser zu dritt oder viert.

Dann die Anlandung, die Fotos beim Abstieg, das Aufnahmelager, und die neuerliche Flucht zur Bahnstation. Man war von neuem weggelaufen – wieder aus Angst.

Schleuser warten schon draußen vor den Lagern.

Pozzallo – Catania, 500€ pro Familie, Syrakus – Catania, 90€ pro Kopf; Augusta – Catania, 100€. Es gibt jemanden, der nimmt 50€ für jeden Migranten, den man aus dem Lager lässt. Andere nehmen 70€, um den Migranten dabei zu helfen, die Fahrkarten am Automaten zu ziehen, mit einem Gewinn von 60€ pro Kopf. Ein Schleuser hat 500€ gefordert, um eine Fahrkarte Catania – Mailand zu lösen, die ungefähr 100€ kostet, oder die Hälfte, wenn man als Familie reist.

Aber nicht allen gelingt die Flucht. Nach einigen Zeugenaussagen, die am vergangenen 6. Mai gesammelt wurden, sind 200 SyrerInnen von drei Autobussen direkt am Hafen abgeholt und auf ein Flugzeug nach Neapel gebracht worden. Mitten in der Nacht sei die Polizei mit der Absicht, Fingerabdrücke zu nehmen, ins Lager gekommen. Laute Stimmen, Geschrei, Drohungen, Schläge.

Bis heute ist das Schicksal der syrischen Flüchtlinge nicht klar. Auf der einen Seite schließen sie die Augen, erlauben die Zusammenführung mit Brüdern, Schwestern, Eltern, Onkeln, Cousins, die schon in Nordeuropa angekommen sind; auf der anderen Seite hält man sie an einem rechtsfreien Ort fest, aus dem man nicht raus kann, wo man spontan entscheidet, mit Hungerstreik zu protestieren, damit man nicht die Fingerabdrücke in Italien lassen muss.

Es ist schwer, auf Sizilien die Spur einer Planung oder eines Konzeptes der Aufnahme zu entdecken, auch nicht die Spur einer klaren Entscheidung, die Durchreise zu erleichtern, unterstützt durch die Vorbereitung eines angemessenen Eingreifens. Die von der Regierung ersonnenen Aktionen scheinen mehr in die Richtung zu gehen, das Asyl nach Libyen oder Ägypten auszulagern statt in die Richtung, menschliche Korridore zu öffnen.

Den Unterschied machen im Moment die Jugendlichen, die spontan entscheiden und sich daran beteiligen, die Personen, die alles benötigen, mit einem niedrigschwelligen Hilfsangebot zu versorgen.

Gestern Abend war das Gleis 3 von Villa San Giovanni voll von Musik und Farben. Endlich hatten die Kinder, die man wenige Stunden zuvor in Catania gesehen hatte, die Gelegenheit, Kinder zu sein, zu spielen, zu lachen, und zu versuchen, dem Clown des Vereins die Nase abzuschlagen. Bald darauf werden sie wohl endlich eingeschlafen sein, wenn auch die Reise noch nicht zu Ende ist.

Aus dem Italienischen von Rainer Grüber