Wir sind stets unvorbereitet
Wir erleben einen Exodus von Männern, Frauen und Kindern auf der Flucht vor Krieg, Gewalt, Drohungen und extremer Armut. Die rasche Verschlechterung der Situation in Libyen hat in den letzten Tagen Tausende von Menschen buchstäblich dazu gezwungen, in Richtung der italienischen Küsten aufzubrechen. Über die Angriffe und die brutale Gewalt hinaus, von denen uns die Medien berichten, sprechen die Migranten auch von Drohungen und sich wiederholenden Übergriffen innerhalb und außerhalb der libyschen Gefängnisse. Zudem verschärft sich durch die Lockerung unserer menschenverachtenden Gesetze und die Kurzsichtigkeit Europas das Verhalten derjenigen, die die Bootsüberfahrten organisieren und durchführen.
Dies zeigen die Worte und die Zeichen auf dem Körper derjenigen, die es glücklicherweise schaffen, Italien zu erreichen. Ähnliches berichten auch Ärzte ohne Grenzen (MSF, Medici senza frontiere) von ihrem Team in Pozzallo, wo sie sich in beständigem und regelmäßigem Kontakt mit Migranten befinden, die gerade eingetroffen sind oder in Transit aus dem städtischen Erstaufnahmezentrum kommen. http://www.askanews.it/regioni/sicilia/msf-segni-di-violenze-sui-migranti-giunti-a-pozzallo_711237458.htm.
Allein in den letzten vier Tagen (Donnerstag bis Sonntag, dem 15.2.) wurden ca. 2.164 Migranten von 13 unterschiedlichen Schiffen im Kanal von Sizilien gerettet. Sie befanden sich in unterschiedlichen Entfernungen von der libyschen Küste und wurden von unterschiedlichen Einheiten gerettet. http://www.tgcom24.mediaset.it/cronaca/sicilia/soccorsi-in-mare-2-164-migranti_2095807-201502a.shtml
Insgesamt sind ungefähr 5.700 Personen seit dem 1. Januar 2015 angekommen. (*) http://www.euronews.com/2015/02/17/3800-migrants-flee-libyas-rising-danger-since-friday/
Dieser Zahl sind die Ankünfte des 16. und 17. Februars hinzuzufügen.
Die Situation ist tatsächlich schon vom Moment der Ersten Hilfe an sehr konfus und heterogen. Die letzte der unzählbaren Katastrophen hat dreihundert Menschen auf offenem Meer das Leben gekostet. Seitdem scheint es, als seien Rettungseinheiten bis zu 50 Meilen vor der libyschen Küste vorgestoßen. In dieser Entfernung zur Küste befand sich das Patrouillenboot der italienischen Küstenwache, das Sonntagnachmittag von vier bewaffneten Männern überfallen wurde. Wie einer der anwesenden Ärzte berichtete, wurden sie, nachdem die Flüchtlinge umgeschifft wurden, zur Übergabe des Transportbootes gezwungen. Die Rettungen finden in verzweifelten Situationen und mit erheblichen logistischen Problemen statt: ohne große Boote, welche für die hohe Anzahl von Migranten notwendig wären, und ihnen unerlässlichen Erste-Hilfe-Leistungen während der Umschiffung garantieren könnten.
Die Zweifel bezüglich der Unzulänglichkeit der vorhandenen Rettungsboote wurden von der Anzahl der Erfrierungs- und Unterkühlungstoten behoben. Hierbei handelt es sich u.a. um Patrouillenboote der Küstenwache mit einer Kapazität von 60 Personen, die die sichere Ankunft von in prekärem Zuständen aufgelesener Migranten garantieren sollten. Dies führt zur Überfüllung von Lampedusa, der ersten Anlaufstelle nach den Rettungseinsätzen auf See. Das Erstaufnahmezentrum der Insel, welches bei Notfällen geöffnet ist, hat tagelang über 800 Personen beherbergt, die wiederum zum Teil mit Charterflügen oder Booten verlegt wurden. Die Überlebenden der letzten Katastrophe sind jedoch auf der Insel geblieben!
Bei solcherlei kritischen Gesundheitszuständen sind nur Militär- oder Handelsschiffe angemessene Transportmittel. In Lampedusa findet das Eintreffen von weiteren Menschen kein Ende und das Zentrum von Contrada Imbriacola hat inzwischen (gestern, am 17. Februar) 1.200 Gäste aufgenommen http://www.agenzia.redattoresociale.it/Notiziario/Articolo/478519/Lampedusa-centro-d-accoglienza-al-collasso-Trasferire-i-piu-vulnerabili, die auf eine Verlegung warten. Dies stellt eine Situation dar, die unweigerlich an ihre Grenzen geraten ist. Einerseits liegt dies an einer Überfüllung, die nicht mehr vertretbar ist, andererseits an der Promiskuität von schutzbedürftigeren Migranten wie Schwangeren, Kranken und Kindern mit den Anderen. Auch die Bürgermeisterin der Insel, Giusi Nicolini, nimmt die schändliche Situation zur Kenntnis: „Das Unglaubliche an der Sache ist, dass wir stets unvorbereitet sind! Das Gleich ist schon während des Arabischen Frühlings geschehen und das Beenden von Mare Nostrum war hinsichtlich der Zuspitzung der libyschen Krise auch keine gute Idee. Hoffen wir, dass es über die Grenzen von Lampedusa hinaus bald zu Verbesserungen kommt, um so viele Leute wie möglich retten zu können und auch Lampedusa zu helfen.“ Die Gefahr, die von ISIS ausgeht? „Die Geschichte von Paris“, führt die Bürgermeisterin fort, „lehrt uns, dass nicht die Distanz das Problem ist und weit weg zu sein schützt auch nicht. Aber in Lampedusa scheint mir dies nicht das Problem zu sein.“ http://www.rainews.it/dl/rainews/articoli/Immigrazione-il-centro-di-Lampedusa-al-collasso-nicolini-sindaco-sempre-impreparati-4421f8ad-65b0-4f7c-98cc-912578387ef7.html
Das Panorama bessert sich an der ostküste Siziliens leider auch nicht.
Der Hafen von Pozzallo, in der Provinz Ragusa, hat gar drei Ankünfte zwischen Sonntag und Montag mit über 500 Migranten zu verzeichnen. Auch hier hat das Erstaufnahmezentrum am Hafen, das vor Kurzem wieder eröffnet hat und Kapazitäten von bis zu 180 Plätzen aufweist, zunächst die 275 Migranten beherbergt, die Sonntagmorgen angekommen waren. Gleich darauf wurde es wieder geräumt und hat über 200 Migranten aufgenommen, die am nächsten Tag eintrafen.
Während der letzten Ankunft am Montag mussten die Migranten Stunden in der Bucht verharren, bevor der Schlepper sie an den Anlegeplatz überführte, da Verspätungen in den Verlegungen entstanden waren. Abgesehen davon scheinen die letzten Verlegungen Richtung Crotone, ins Aufnahmezentrum in Mineo und andere Strukturen außerhalb der Provinz zügig verlaufen zu sein, auch wenn das Risiko einer starken Überfüllung stets präsent bleibt, da die Ankunftssituation weitaus chaotischer aussieht ohne Mare Nostrum. Die Schwierigkeit, angemessene juristische und sanitäre Erste-Hilfe-Stellung zu leisten, vergrößert sich zunehmend angesichts des aktuell hohen Aufkommens.
Weitere 284 Migranten sind außerdem Sonntagnacht im Hafen von Augusta angekommen. Unter ihnen befanden sich 24 unbegleitete Minderjährige, hauptsächlich Somalier, und 25 Frauen. Nach einer Nacht in der Zeltstadt des Hafens wurden die Minderjährigen gemeinsamen mit den Frauen ins Zentrum „La Madonnina“ in Mascalucia und in das „Zagare“ in Melilli gebracht, während die Männer nach Syrakus gebracht wurden, wo glücklicherweise noch keine besorgniserregende Überfüllung zu verzeichnen ist.
Am 16. Februar sind 186 Migranten in Trapani aus zwei Booten, die in Libyen gestartet waren und die von einem Maltesischen Handelsschiff gerettet wurden, angekommen. http://trapani.blogsicilia.it/salvati-al-largo-di-tripoli-186-migranti-sbarcano-a-trapani/287385/
Für die 648 Migranten, die heute Porto Empedocle erreicht haben, wurde eine ganz andere Lösung gefunden. Im Inneren des Hafens von Agrigent wurde das große Zelt wieder eröffnet, allerdings lediglich zwecks der ersten Identifikation und der Transitkoordination, da die Flüchtlinge bereits heute in den Piemont, die Lombardei und nach Venetien überführt worden sind. 80 der Flüchtlinge, ursprünglich aus Marokko, Tunesien und Algerien, wurden in die Abschiebungshaft nach Caltanissetta oder ins nahegelegene Polizeipräsidium gebracht, wo sie auf eine sofortige Rückführung in eine Heimat warten, die sie möglicherweise schon längst vergessen haben. Bei der Ankunft in Sizilien scheint sich die Transfer-Maschinerie in Gang zu setzen, wenn auch nicht flüssig und mit einem Fragezeichen, wie lange sie funktionieren wird. Wie viele Menschen schaffen es und zu welchem Preis? Wie viele klammern sich an die lampedusanischen Klippen in einer extremem Notlage? Wie viele können gerettet und lebendig in die naheliegenden Zentren gebracht werden? Es bleiben weiterhin noch zu viele maßgebliche und unumgängliche Probleme, für die noch keine Lösung in diesen Tagen gefunden worden ist. Es haben sich zu viele Situationen ereignet, in denen die rechtlichen Grundbedingungen zum Teil nur für kurze Zeit oder nur für jene, die mehr Glück gehabt haben, garantiert worden sind.
(*) Im Januar 2015 sind 3.528 Menschen über das Meer nach Italien gekommen. http://www.ilgiornale.it/news/cronache/fallimento-triton-pi-sbarchi-che-mare-nostrum-1092278.html
Lucia Borghi, Alberto Biondo
Borderline Sicilia
Aus dem Italienischen von Alina Maggiore