Die Kriminalisierung der Unterstützer*innen für Migrant*innen seitens derer, die in Wirklichkeit für Tod und Gewalt verantwortlich sind
Vor kurzem wurde der Internationale Tag des Geflüchteten mit viel Heuchelei und großen Widersprüchen begangen. Einige begnügten sich mit der Veranstaltung eines Fußballmatchs oder eines Festes auf der Piazza. Andere öffneten sogar ihr Aufnahmezentrum, damit die Bürger*innen es wie einen Zoo besichtigen konnten. Die Politiker*innen hatten so Gelegenheit, einen großartigen Auftritt hinzulegen und wortreich für das Schicksal der Migrant*innen einzutreten. Aber es gab auch einige, die ungestört ein Mal mehr Unwahrheiten im Fernsehen sagen und die öffentliche Meinung zu hasserfülltem Rassismus anstacheln konnten.
Die Äußerungen der Politiker*innen und der Richter*innen, die von der Presse absichtlich übernommen wurden, haben bereits erste Folgen gezeigt: Die NGOs, die (unter der sorgfältigen Regie von Frontex) bezichtigt wurden, mit den libyschen Schlepperorganisationen gemeinsame Sache zu machen, konnten beobachten, wie die Spenden, die sie zur Finanzierung ihrer Aktivitäten jährlich einnehmen, in drastischem Ausmaß zurückgingen, so sehr, dass die Zukunft der Rettungsmissionen auf dem Meer, die Hilfe für die Geflüchteten im Land und die Oppositionsarbeit gegen die politische Härte gefährdet sind. Die andere, dramatische Folge war die Drohung der italienischen Regierung, die sizilianischen Häfen für die Hilfsschiffe der NGOs sperren zu lassen.
Einmal mehr spielt man also mit dem Leben der Menschen und nutzt Migrant*innen aus, für Geldforderungen an Europa, um damit diesen „Notstand“ weiterzuverwalten und mit dem Leben der Schwächsten Geschäfte machen zu können.
Dass das Aufnahmesystem derzeit nicht funktioniert ist mehr oder weniger allen klar, man muss nur den jüngsten Bericht der Nationalen Aufsichtsbehörde für die Rechte von Menschen, die in Haft oder ihrer persönlichen Freiheit beraubt sind, lesen:
„Gemischte Unterbringung von Menschen innerhalb der Einrichtungen, ohne dass die verschiedenen rechtlichen Situationen der einzelnen geprüft werden: Personen, die aus dem strafrechtlichen Umfeld kommen, Personen, die wegen ihrer Aufenthaltserlaubnis in einer irregulären Situation sind, Asylanwärter*innen, aber nicht nur in den CAS*, den Hotspots und den Hub* ist der Alltag ein Zusammenwohnen von Erwachsenen und Minderjährigen, Männern und Frauen, besonders Schutzbedürftigen und mutmaßlichenSchleppern. Informationen über Rechtsansprüche, Mediation, qualifiziertes Personal – all das gibt es nicht. Und alles läuft darauf hinaus, dass ein Heer von Unsichtbaren geschaffen wird, das in unseren Städten arbeitet.“
Der jüngste Fall, auf den wir gestoßen sind, ist eine noch schlimmere Warnung, daß es diesen gefährlichen, von Europa geförderten Plan gibt, eine kriminelle Praxis am Leben zu halten, die rechtlose Menschen ausbeutet.
Ein Beispiel hierfür ist die ausbeuterische Praxis in den Feldern rund um Agrigent. Wir haben in Canicattì auf dem Dorfplatz Menschen getroffen, die im ehemaligen IPAB* Burgio-Corsello „interniert“ sind. Sie haben uns geschildert, wie sehr man sie dort vergessen hat und über das Fehlen jeglicher (rechtlicher, psychologischer, sprachlicher) Hilfe berichtet: das anwesende Personal „kümmert sich um die Senior*innen, nicht um uns“ erzählen uns die Aufgenommenen. Das betroffene CAS ist Teil einer sehr großen Einrichtung, deren eine Hälfte als Wohnheim für Senior*innen, die andere als Aufnahmeeinrichtung für Migrant*innen konzipiert ist. Es heißt, dass in dieser Einrichtung Menschen leben, die seit drei Jahren dort „geparkt“ werden, Jugendliche aus Einrichtungen für Minderjährige, die vor kurzem volljährig wurden und auch noch Migrant*innen, die unterwegs in andere Aufnahmezentren sind. Nach Aussage der Heimbewohner*innen wurde ihnen kein Schulbesuch zugesichert und so bleibt ihnen nur übrig, auf die Felder für bestenfalls 20 € pro Tag arbeiten zu gehen. Es gilt der übliche Rhythmus: zwischen 4:30/5:00 Uhr morgens geht man zur Sammelstelle, wartet auf den Bauern, der mit seinem Kleintransporter kommt und unter italienischen, afrikanischen und rumänischen Erwachsenen aussucht. Aber es sind auch viele Minderjährige unter ihnen, die noch nicht in der Depression versunken sind, die auf die Passivität folgt, und sich für ein paar Euro Taschengeld ausbeuten lassen.
Leider ist diese Ausbeutung nicht nur in der Landwirtschaft an der Tagesordnung: junge Frauen werden sexuell missbraucht und auch jüngere Männer werden von alten schamlosen Typen angesprochen, die ihnen für sexuelle Dienste Geld anbieten oder versprechen, neue Schuhe, Kleider etc. zu kaufen.
Man fragt sich auch noch, wie ein System funktionieren kann, in dem diejenigen, die zuallererst ausgenutzt werden, größtenteils die Angestellten selbst der „Nicht-Aufnahme-Einrichtungen“ sind. Sie arbeiten schon mal 50 Stunden in der Woche, dies oft monate- oder jahrelang ohne Bezahlung, haben einen 18 Stundenvertrag in der Tasche, der ihnen – gemessen an dem beruflichen Level, auf dem sie nach langer Studien- und Ausbildungszeit arbeiten sollten – erniedrigende Tätigkeiten vorschreibt. Die Leitung der Einrichtung teilt sie für Aufräum- und Reinigungsarbeiten ein, denn falls eine Kontrollbesuch eintreffen sollte, muss alles in Ordnung sein. Ja, denn Zentren werden nicht geschlossen, aufgrund eines mangelnden Bildungsplans oder wenn der Träger sich nicht dafür einsetzt, den Bewohner*innen wenigstens die vertraglich garantierten Basisdienstleistungen zu bieten… sondern der Hygiene wegen!
Aber die Feinde, das sind für viele die, die aus dem Meer kommen, zahlreiche Journalist*innen liefern dazu kontinuierlich eine verzerrte Darstellung des Problems. Das macht es den Rechtsextremisten einfach und legitimiert gesetzwidrige Aktionen, z.B. die Kollektivabschiebungen, die die sizilianischen Polizeipräsidien ausgeführt haben – unter Missachtung der Tatsache, dass das Gesetz dies verbietet. Der jüngste Fall ereignete sich letzte Woche in Palermo, als über 160 Marokkaner*innen nachts auf der Straße zurückgelassen wurden. Viele Aktivist*innen und solidarische Bürger*innen haben jedoch schnell Hilfe geleistet, um diesen Personen ein Mindestmaß an Menschlichkeit zu sichern. Unter den Abgelehnten befanden sich auch Frauen und besonders Schutzbedürftige. Sie bekamen glücklicherweise Rechtsbeistand und die Chance, nicht ausgewiesen zu werden. Den anderen bleibt nur zu wünschen, dass ihr Leben als ewig Unsichtbare erträglich sein möge – genau wie das der vielen anderen, die in den Häfen oder Hotspots von den fleißigen Mitarbeiter*innen der Frontex festgehalten werden (manchmal hat man geradezu den Eindruck, es wird agiert wie in einem Wettkampf, in dem es darum geht, wer die meisten aufspürt). Das alles geschieht im übergeordneten Interesse der inneren nationalen Sicherheit und unter Missachtung von unantastbaren Rechten, wie dem der Familienzusammengehörigkeit. Auf dieses Recht haben auch Menschen Anspruch, die von der Polizei als Zeug*innen für ihre gerade zu Ende gegangene Reise der Verzweiflung festgehalten werden.
In diesem kranken System gibt es auch die unbequemen Zeug*innen wie z.B. Mitarbeiter und Freunde von Borderline Sicilia, Alberto und Angelo, die am vergangenen 28. Juni im Hafen von Porto Empedocle „Opfer eines Verweises“ wurden. Die beiden waren dort, um bei der Landung von 172 Migrant*innen aus der Subsahara, die von zwei Motorbooten der Küstenwache gebracht wurden, dabei zu sein. Um 9 Uhr wurde mit dem Aussteigen aus den Booten schon begonnen.
Nachdem man mit dem diensthabenden Arzt der lokalen Gesundheitsbehörde gesprochen hatte – er berichtete dass die Migrant*innen, v.a. die Frauen, unter ihnen einige Schwangere, stark erschöpft seien – stellten Alberto und Angelo selbst fest, dass die Frauen wirklich am Ende ihrer Kräfte waren. Manche von ihnen legten sich überwältigt von der Müdigkeit einfach auf den Boden, nachdem sie an Land gegangen waren. Wie später bekannt wurde, brachte man mehrere Frauen dann auf Bahren in eine Ambulanz oder ins Krankenhaus.
Alberto machte von einem von dem Schauplatz relativ weit entfernen Ort aus Fotos und ein kleines Video. Außer dem Roten Kreuz waren auch noch andere Organisationen vertreten. Irgendwann näherte sich dann ein junger Polizeibeamter und stellte Fragen, wer Angelo und Alberto wären und was sie da täten. Die beiden gaben zu ihren Personalien Auskunft und wiesen sich als Mitarbeiter unseres Vereins aus. Sie erklärten, daß sie da seien, um der Ankunft des Bootes zuzuschauen. Dies sei eine Aufgabe, die Borderline Sicilia regelmäßig in allen Häfen Siziliens bei der Ankunft von Migrant*innen wahrnehme.
In diesem Augenblick wurden Alberto und Angelo von drei Polizeikräften umstellt. Sie wurden von verschiedenen Beamten verhört, die (teils in sarkastischem Tonfall) nach den Zielen des Vereins fragten und dem Grund für ihre Anwesenheit. Ein Polizist gab zur Antwort, er kenne weder Borderline Sicilia noch Amnesty International (beide sind Mitglieder in diesen Vereinen); dann wollten sie die Handyspeicher sehen. Sie löschten die Bilder, die Angelo und Alberto gemacht hatten. Dann kam auch ein Kommissar Castelli, der wissen wollte, wer sie in diese Zone hereingelassen habe und sich daraufhin mit dem Angestellten an der Molenschranke anlegte, weil dieser Alberto und Angelo ungehindert durchgelassen habe.
Glücklicherweise gab es am 28. Juni in Porto Empedocle keine einzige Ausweisung – außer der von zwei Italienern…..
Alberto Biondo
Borderline Sicilia
* CAS: außerordentliches Aufnahmezentrum
* ipab (istituto pubblico di assistenza e benessere): Italienische öffentliche Einrichtung für Wohlfahrt und Unterstützung
*Hub: Sammelpunkt
Übersetzung aus dem Italienischen von Petra Schneider