Zeiten des rechtlichen Populismus. Was hinter der Kriminalisierung der Solidarität versteckt werden soll
A-dif.org – Die Polemik zu den Äußerungen Zuccaros, dem Staatsanwalt von Catania, über die Mitwissenschaft zwischen NGOs und Menschenhändlern, erreicht gerade die höchsten Ränge der Institutionen. Es hat nicht ausgereicht, dass bewiesen wurde wie die Quelle der ersten Unterstellungen, die europäische Agentur Frontex, weitgehend missverstanden wurde und dann diese schlicht zurückzog. Wie der ehemalige Ministerpräsident Enrico Letta festgestellt hat wurde im Zusammenhang mit der Bekämpfung von Pull-Faktoren, die sicherlich nicht der Infragestellung einer Straftat gleichkommt, wurde der gleiche Angriff, der jetzt auf die NGOs verübt wird, bereits Ende 2014 von Frontex gegen die Operation „Mare Nostrum“ und die Vorsitzenden der Marine und der italienischen Küstenwache gerichtet.
Heute hat der Senatspräsident Pietro Grasso seinen Standpunkt gegenüber Repubblica deutlich gemacht: „Es scheint mir etwas außerhalb der Ordnung, dass ein Justizbeamter, ein Staatsanwalt, Aussagen treffen kann, noch bevor die Ermittlungen eingeleitet werden.“ „Die Ermittlungsinstrumente sind da, das Problem ist, dass man sie anwenden können und Beweise finden muss. Dann erst, wenn die Untersuchung abgeschlossen ist, kann man möglicherweise ihre Ergebnisse veröffentlichen. Aber niemals vorher.“
Der Senatspräsident hatte auch die Partei 5 Stelle kritisiert: „Das alles wurde von einer politischen Seite instrumentalisiert, die gegen Aufnahme und Integration ist und das schmerzt. Man muss verstehen, welches Ausmaß die Instrumentalisierung mancher Aussagen haben kann, die vielleicht guten Gewissens getroffen worden waren, um auf ein Problem oder ein Risiko hinzuweisen, und diese Aussage dann instrumentalisiert wird. Eine Person, die ein institutionelles Amt innehat, muss auch vorhersehen können, wie die eigenen Aussagen instrumentalisiert werden können“. Grasso hatte dann damit abgeschlossen: „Das Problem ist, das wer bei diesen Aussagen mitgeht, verteidigt dann auch deren Quellen. Aber man muss das politische Problem vom Rechtlichen und von den Ermittlungen trennen, das sind zwei komplett unterschiedliche Aspekte.“
Sofort war ein Gegenangriff von Seiten der Fünf Sterne gegen den zweitwichtigsten Amtsträger des italienischen Staates losgegangen und Grasso hatte Samstagnachmittag auf Facebook mit einem Post entgegnet. Dieser sollte wirklich zum Nachdenken anregen, um das Ausmaß des Zerfalls der politisch-institutionelle Auseinandersetzung in unserem Land zu verstehen, angefacht von der öffentlichen Meinung, die täglich von den Mainstreammedien gegen Migrant*innen und wer diese rettet aufgehetzt wird. Präsident Grasso widerspricht mit sehr harten Worten: „Niemand – weder die Regierung, noch ein Blog oder eine private Firma- hat jemals auch nur versucht, mir zu raten, was ich denken oder sagen soll. Jahre der Erfahrung in der Justiz haben mir genug beigebracht, um eine fundierte Meinung zu Themen des Rechts und der Ermittlungen zu haben, und zum angemessenen Zeitpunkt für einen Staatsanwalt seine Informationen preiszugeben, wenn diese nicht von handfesten Beweisen unterstützt sind. Lieber Luigi Di Maio, du bist jung, aber tätest gut daran, dich zu erinnern, dass man in jedem Alter dazulernen kann und muss. Du hast schon mehrmals bewiesen, große Lücken in Geschichte, Geographie und Recht zu haben: du kannst noch viel lernen.“
Währenddessen machen auf den Webseiten der 5 Stelle Unterstützungserklärungen zu den rechtlichen Maßnahmen die Runde, die die Staatsanwaltschaft von Catania angekündigt hat. Es sind noch keine nennenswerten internen Meinungsverschiedenheiten festzustellen. Die Anweisungen des Chefs werden auch von Abgeordneten des Europaparlaments befolgt, die in Vergangenheit Mut und Unabhängigkeit gezeigt hatten.
Es scheint fast so, als hätte der Staatsanwalt Zuccaro ein Fass aufgemacht, dass manch eine*r gerne geschlossen behalten hätte. Es werden sogar Parallelen gezogen zwischen den (angekündigten) Ermittlungen der Staatsanwaltschaft von Catania zu den NGOs, die Migrant*innen im Norden Libyens retten, und den in den 90er Jahren von Juristen wie Giovanni Falcone und Paolo Borsellino geleiteten Ermittlungen gegen die Mafia. Juristen, die ihren Einsatz und ihre Isolation mit dem Leben bezahlt haben. Namen, die heutzutage respektiert werden müssten und nicht in solchen Polemiken auftauchen sollten.
Peppino Di Lello, Mitglied des Antimafia-Pools von Palermo, hat gut daran getan, ausdrücklich zu erklären, dass es unmöglich sei, irgendeinen Zusammenhang zwischen den Ermittlungen gegen die Mafia der 90er Jahre (des letzten Jahrhunderts) und den heutigen Ermittlungen gegen die NGOs herzustellen. Letztere sind „angekündigt“, aber noch ohne Anklagepunkte, gegen die die Angeklagten ihre Rechte geltend machen könnten. Ebenso sind diese Ermittlungen auf Initiative von ausländischen Geheimdiensten und Frontex herbeigezogen, um dann von einem weitreichenden Lager aus Politik und Medien unterstützt zu werden, in Einklang mit den aggressivsten Zügen des Populismus.
Auch „Magistratura democratica“ hat, mit einem klaren „Nein zu Schnellverfahren, die das Persönlichkeitsrecht und die Verfassung verletzen, in den Ermittlungen zu Menschenhandel“, klar Position bezogen.
Auch wenn nur als Minderheit in Blättern wie „Osservatore Romano“ auftretend, fordert auch die Kirche die Staatsanwaltschaft dazu auf, die Fakten auf den Tisch zu legen und Klarheit zu schaffen.
Trotz der Positionierung dieser Autoritäten, hat man das Gefühl, dass ein Damm durchbrochen ist, der Damm der Solidarität. Die humanitären Helfer*innen und die solidarischen Mitbürger*innen stehen immer mehr unter Angriff, selbst wer einfach nur einen telefonischen Hilferuf weitergegeben hat. Manche scheinen sich darüber zu beschweren, dass keine Beschlagnahmungen und Festnahmen erfolgen dürfen auf der Basis von Ermittlungen, die mit der Hilfe von deutschen und holländischen Geheimdiensten durchgeführt werden. Es lebe der Rechtsstaat.
Und gegen die Arbeitsweise der NGOs verdichten sich verdächtigende Annahmen, die einen Beigeschmack haben von einem bereits feststehenden Urteil. Zwischen den Organisationen wird nach Gut und Böse unterschieden, ohne dass dies von beweiskräftigen Ergebnissen unterstützt würde. Das Urteil jedoch basiert auf den Reaktionen der Geheimdienste und nun bittet die Staatsanwaltschaft von Catania die Regierung, diese auch prozesstauglich zu machen. Das ist tatsächlich eine außerordentliche Vorstellung des Rechtsstaats und der Unterordnung der Richter zum Recht, was ein Kernpunkt der Demokratie in einem Land ist.
Jeden Tag bringt der Populismus, getragen vor allem von der Lega Nord und den Spitzen des Movimento 5 Stelle, die Öffentlichkeit gegen Migrant*innen und Retter*innen auf. Diese Öffentlichkeit ist von der ökonomischen Krise betroffen und in sichtlichem Verwirrungszustand, da sie die Ursachen mit den Wirkungen verwechselt. Es wäre ihr lieber, Menschen im Meer ertrinken zu sehen, als sich an die Rettungspflicht zu halten. Man würde ungern dazu beistimmen, dass diese in einen sicheren Hafen gebracht werden, der, entgegen dem, was die Staatsanwaltschaft von Catania behauptet, nicht unbedingt der nächste ist. Interessanterweise wird die These der Staatsanwaltschaft ebenfalls von den hohen Rängen der Lega und des Movimento 5 Stelle unterstützt.
Allerdings war manch eine*r aus der Partei der Fünf Sterne auch an Bord der beschuldigten humanitären Schiffe gewesen und hatte sich positiv zu der dort geleisteten Arbeit geäußert. Es schien doch klar, dass von Rettungsaktionen in rechtswidriger Absprache mit libyschen Schleppern nicht die Rede sein durfte. Nur eine Verblendung oder politischer Opportunismus? Oder Amnesie?
Und dass die libyschen Gewässer „sichere Wasser“ seien, wie der Staatsanwalt Zuccaro festgestellt hat, wird von der Zahl an Toten widerlegt, die jedes Jahr dort registriert werden, wenn die Schiffe im Einsatz nicht die humanitären, sondern die Motorboote der libyschen Küstenwache sind. Diese sind oftmals nicht einmal in der Lage all die über Bord Gegangenen an Land zu bringen. Es reicht einen Blick auf die Fotos der „Rettungseinsätze“ dieser Schiffe zu werfen, von denen viele im Netz zu finden sind. Und mit den inzwischen von Italien zurückgegebenen, schnellen Motorbooten wird es nicht groß anders sein. Die Libyer*innen, egal welcher Miliz sie nun auch angehören, besitzen keine ausreichend großen Boote um die im Meer ausfindig gemachten Migrant*innen in Sicherheit zu bringen, vor allem nicht, wenn ihnen erlaubt wird, in internationalen Gewässern operativ zu sein.
Die libysche Küstenwache, wenn man denn von einer Küstenwache reden kann, hat NICHT die Mittel, um die Such- und Rettungszone abzusichern, die diesem Land von den internationalen Konventionen zugeschrieben worden ist. Hieraus erwächst die Pflicht der Autoritäten der angrenzenden SAR*-Zonen einzuschreiten, es sei denn, man will mit betrügerischen Abkommen dem essenziellen Inhalt der internationalen Konventionen, der kompromisslosen Pflicht zur Seenotrettung, entgehen.
Wenn die humanitären Schiffe eingreifen dürfen, wird die Zahl der Opfer aufs Minimum reduziert. Genau das hat man an Ostern beobachten können, als angesichts der tausenden Einsätze seitens der NGOs, im Umfeld der humanitären Schiffe kaum Opfer zu beklagen waren, im Vergleich zu der riesigen Zahl an durchgeführten Rettungseinsätzen.
Indessen, so bezeugt Erri De Luca, hat es in ebendiesen Ostertagen, die durch die herausragende Zahl an von NGOs geretteten Personen Aufsehen erregt haben, zahlreiche Opfer gegeben. Und zwar in Folge von der Kursabweichung dreier Boote, die, selbst als sie sich schon in internationalen Gewässern befanden, von der libyschen Küstenwache erreicht wurden um zurückgeführt zu werden. Eines dieser Boote ist, während es sich in Begleitung der Libyer*innen befand, gekentert und dutzende Tote verursacht. Wenn kein Boot einer NGO dabei gewesen wäre und wenn Erri De Luca nicht darüber berichtet hätte, hätte niemand davon erfahren. Auch deshalb möchte man heute die Boote der NGOs auf Abstand halten.
Das Schicksal der von der lybischen Küstenwache „geretteten“ Migrant*innen ist immer tragischer und Libyen, oder zumindest der bescheidene Teil des Territoriums, der von der Regierung in Tripolis repräsentiert wird, kann nicht als sicheres Herkunftsland betrachtet werden, mit welchem Abkommen getroffen werden können, um Migrant*innen im Meer aufzuhalten. Allen ist der Zustand der Migrant*innen bekannt, die an Land zurückgebracht werden und in den Haftanstalten in Libyen festgehalten werden, oder gleich an kriminelle Menschenhandelsorganisationen übergeben werden.
Währenddessen haben die Vorwegnahmen zu der von der Staatsanwaltschaft von Catania geführten Ermittlung und die daraus hervorgehenden politischen Instrumentalisierungen dem Image der im Meer operierenden NGOs sehr geschadet. Dies auch wegen der unangebrachten Gleichstellung mit den in den Fall „Mafia capitale“ verwickelten Kooperativen, einem Skandal, bei dem die gleiche Staatsanwaltschaft von Catania mit mehr Schärfe bis in die hohen Riegen der Politik hätte vorgehen können. Wenigstens hätte sie hinsichtlich des Riesen-Zentrums „Mineo“ aktiv werden können, das so nah an Catania liegt, bevor andere Staatsanwaltschaften eingreifen, zum Beispiel die von Caltagirone.
Beunruhigend ist für die nächsten Monate, dass der Angriff der Medien auf die NGOs sich in juristische Initiativen konkretisieren könnte, nur um vorher gebildete Thesen zu untermauern. Somit würde verhindert, dass die NGOs in internationalen Gewässern in dem Meeresbereich agieren, wo sich die meisten Schiffbrüche ereignen. Diese Zone wurde einmal von Frontex gesichert, als die Europäische Kommission mit dem Dekret 656/2014 beschloss, das Mandat der Agentur zu erweitern. Dies geschah nach dem Schiffbruch vom 18. April 2015, bei dem Hunderte in einem Fischerboot gefangen auf den Meeresgrund sanken. Die Reichweite von Frontex wurde auf 135 Meilen südlich von Lampedusa und Malta erweitert, praktisch bis zur Grenze zu libyschen Gewässern, an der sich bis heute noch das Schiff SIEM PILOT der Agentur befindet. Heute kann niemand behaupten, dass Rettungseinsätze in internationalen Gewässern im Norden Libyens von libyschen Motorbooten oder von Handelsschiffen aus geleistet werden können.
Der Einsatz der italienischen Regierung wurde inzwischen einer Kehrtwende unterzogen und mit allen Mitteln in Richtung einer Kriminalisierung der NGOs gelenkt, um eine Immigration zu bekämpfen, die als „illegal“ definiert wird. So wird das Ziel gesetzt, Migrant*innen vom Aufbruch abzuhalten, ohne Rücksicht auf den Preis dieser unmenschlichen Entscheidung zu nehmen, im Hinblick auf die dafür geopferten Menschenleben.
Die Sorgen über die zukünftigen Entwicklungen der SAR-Aktivitäten* im zentralen Mittelmeerraum haben einen weiteren Grund. Italien lässt in diesen Tagen den Libyer*innen, oder besser der Regierung von Tripolis, wieder zehn neue Motorboote zukommen bzw. gibt diese zurück. Damit sollen die Blockade- und Rückführungstätigkeiten gegen die Migrant*innen ausgeweitet werden, die nichts desto trotz weiterhin von den Menschenhändler*innen aus Libyen losgeschickt werden. Seit Jahren wird versucht, die ursprünglichen Abkommen zwischen Italien und dem, was von Libyen übriggeblieben ist, wieder zu beleben, mit denen die Verantwortung der Rückführungen an Land an die lybischen Autoritäten delegiert würden. Würden diese nämlich von italienischen Einheiten, im Rahmen weiterer Sammelabschiebungen wie die 2009 von Maroni verordneten, übernommen, so würde das zu einer sicheren Verurteilung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte führen (wie 2012 im Fall Hirsi).
Laut der neuen Abkommen zwischen Italien und Libyen ist auch eine Kommandozentrale vorgesehen, die als gemeinsame Kooperationskoordination zwischen Italiener*innen und Libyer*innen ausgegeben wird. Auch das soll hinter den Angriffen auf die NGOs versteckt werden, die in der selben Zone, die nun den Libyer*innen anvertraut wird, weiterhin vorhaben, Menschenleben zu retten und die Schiffbrüchigen in einen place of safety, einen sicheren Hafen zu bringen, der nicht immer der allernächste sein muss. So ist es zumindest von den internationalen Konventionen vorgesehen, die so viele schon vergessen zu haben scheinen. Es ist erforderlich, unangenehme und nicht kontrollierbare Zeug*innen auf Abstand zu halten. Und auch die Weiterleitung der telefonischen Hilferufe soll verhindert werden, um immer öfter bekannt zu machen, dass Menschen den Libyer*innen überlassen wurden, wenn nicht sogar Fälle der unterlassenen Hilfeleistung stattgefunden haben, Fälle, die immer häufiger vorkommen werden.
Wir können nicht vorhersehen, welche Ausgänge die gegen die Mitarbeiter*innen humanitärer Organisationen geführten Prozesse haben werden. Anlässlich dieser Prozesse können sich die Angeklagten einer breiten Unterstützung sicher sein. Wir wissen jedoch genau, dass von nun an die Kollateralschäden, die aufgrund der Neudefinition des Einsatzes der humanitären Schiffe entstehen werden, an der Zahl der Opfer abgelesen werden können, die man im Mittelmeer finden wird. Das wird sich sicher bestätigen, sobald ebendiese Schiffe, die bisher mit der Unterstützung der italienischen Küstenwache agiert haben, „isoliert“ werden, weil die Schiffe der italienischen Marine weiter nach Nord-Osten, für die Mission „Sicheres Meer“ abgezogen werden. Die Schiffe der Frontex Mission werden immer weniger sein und dafür weiter in der Nähe der Insel Malta stationiert sein.
Die Schiffe der NGOs, die an der Grenze zu libyschen Gewässern Hilfe leisten, werden isoliert. Es ist ganz klar ein Plan der italienischen Autoritäten und des Ministers Minniti, obwohl die Schiffe angreifbar sind für die Fischerboote der Menschenhändler und die Motorboote der libyschen Küstenwache (auf denen ab Mai in Italien ausgebildetes Personal präsent sein wird). Dieser Plan könnte weitaus verheerendere Folgen haben als die politischen Angriffe und rechtlichen Ermittlungen, die zwar angekündigt wurden, jedoch immer noch ohne gültige Beweise bleiben, die im Sinne des Rechtsstaatsprinzips und des Rechtes auf Verteidigung gesammelt wurden. Auf dem Spiel stehen Menschenleben.
Fulvio Vassallo Paleologo
*SAR: Search and Rescue
Übersetzt von Antonia Cinquegrani