Begegnungen und Begehungen in Trapani und Umgebung
Angesichts weiterer Schiffslandungen und der komplexen Situation in der Region haben wir die Lage in Trapani letzte Woche als eher angespannt erlebt. Wir waren dort, um uns einen Eindruck von zwei Aufnahmeeinrichtungen in Marsala zu verschaffen, dem Borgo della Pace und dem ehemaligen Wohlfahrtszentrum Giovanni XXIII.
Die Woche beginnt mit der Landung von 558 Personen, darunter 61 unbegleitete Minderjährige.
Alle Insassen des Schiffes sind von der Reise, vor allem aber von der mitunter sehr langen Gefangenschaft in Libyen völlig erschöpft. Der junge R. aus Pakistan erzählt uns: „Ganz viele von uns waren etwa ein Jahr lang in der libyschen Hölle, viele sind auf dem Weg verloren gegangen und manche mussten wir mit eigenen Augen sterben sehen. So viele Freunde, die heute nicht mehr unter uns sind. Dank unseres Gottes Adinath haben es einige von uns geschafft – obwohl wir große Wunden davongetragen haben, äußerliche und innerliche. Sie verzehren uns von innen.“
Leider hat das Schiff auch den Leichnam eines etwa zwanzigjährigen Mannes an Bord. Den Berichten der Ankömmlinge zufolge ist die Zahl der Opfer in diesem stillen, aber unerbittlichen Krieg noch viel höher, als es Politik und Medien glauben machen wollen.
Die Überlebenden, unwillkommene Zeug*innen gescheiterter europäischer Politik, werden in den Hotspot von Milo gebracht. Dort sollen sie nun darauf waren, dass die Verteilungspläne, die ihre weitere Unterkunft regeln, vom Ministerium bewilligt werden. Sind die Abläufe in Milo auch verhältnismäßig gut erprobt und die Verwaltung weitestgehend konventionskonform, kann der in Trapani koordinierte Weiterverteilungsprozess durch Verzögerungen und Widerstände seitens des Ministeriums kurzfristig völlig lahmgelegt werden – was wieder einmal beweist, dass das Ministerium permanent in einer Art selbstverschuldetem Notstand arbeitet und es an einer langfristigen, ernstzunehmenden Planung mangelt.
Unsere Besichtigungsreise nimmt allerdings nicht im Hotspot von Milo, sondern im außerordentlichen Aufnahmezentrum Borgo dellla Pace ihren Anfang. Die Einrichtung liegt nahe der Anlegestelle der Fähren zur Insel Mozia und bietet dementsprechend eine wunderschöne Sicht. Die Personen, die uns dort in Empfang nehmen, zeigen sich bereitwillig und entgegenkommend – allesamt sehr jung, aber in der Sache ziemlich erfahren.
Das Zentrum wird von der Francesco-D’Assisi-Stiftung betrieben, die das Projekt auf Anregung des Präfekten Falco im Jahr 2014 ins Leben gerufen hat. Beim Borgo della Pace handelt es sich um eine ehemalige Sozialunterkunft, in der zur Zeit 41 erwachsene Männer (erlaubt wären 46) untergebracht sind. Bei allem guten Willen der Mitarbeiter*innen zeigt uns jedoch auch dieses Zentrum einmal mehr die verheerenden Mängel des Systems auf: Mehr als die Hälfte der Bewohner, die zu einem Großteil aus dem Senegal oder Gambia stammen und seit der Eröffnung des Zentrums 2014 hier wohnen, sind Berufungskläger gegen die Ablehnung ihres Asylantrags. Die anderen sind Neuankömmlinge, die auf die Anhörung vor der Asylkommission warten.
Die strukturellen Probleme des Aufnahmezentrums decken sich mit denen der anderen Einrichtungen in Marsala, Trapani und Umland. Sie sind der ungemein großen Zahl der in der Region untergebrachten (sowohl voll- als auch minderjährigen) Migrant*innen geschuldet. Es gelingt den örtlichen Behörden nicht, die Verwaltungsprozesse in einem zeitlich vertretbaren Rahmen zu halten, wodurch die in den Erstaufnahmezentren zum Warten verurteilten Personen regelrecht verrückt werden und folglich nicht selten Fluchtversuche unternehmen.
„Wir können nicht die ganze Zeit warten“, berichtet uns der 25-jährige C. aus dem Senegal, „wir müssen doch arbeiten! Das Taschengeld kommt nur einmal in der Woche und wir schicken es an unsere Familien, aber es reicht nicht immer aus, um unsere Lieben zuhause zu ernähren. Warum lasst ihr uns so lange warten? Ab und an gibt es mal Arbeit, aber dann geben sie uns nur 20 oder 25 Euro für einen ganzen Tag Schuften auf dem Acker.“
Dieser Meinung ist auch O., ebenfalls Senegalese und ein Freund von C., der seit einiger Zeit in einem verlassenen Haus in der Nähe des Borgo della Pace schläft. Das heruntergekommene Gebäude ist einer von vielen inoffiziellen Zufluchtsorten in der Region, in denen jene spontan Unterschlupf finden, die das Aufnahmerecht verloren haben oder sich angesichts der unwürdigen Bedingungen in den Aufnahmezentren zur Flucht entschieden haben. Auch O. arbeitet als Tagelöhner für einen ansässigen Bauern. Und auch er wird ausgebeutet. Seit drei Jahren ist er in Marsala. Und erzählt Dinge, die uns so oder ähnlich auch anderenorts oft zu Ohren kommen: „Wir können nachts nicht schlafen – einerseits wegen der Kälte, vor allem aber wegen der Gedanken, die uns innerlich zermartern. Mir wird schwindelig bei dem Gedanken, dass ich diesen Monat nicht gearbeitet habe und nichts nach Hause schicken kann. Auch ich warte bisher vergeblich auf das Ergebnis meiner Berufungsklage. Das Zentrum, in dem ich anfangs gewohnt habe, habe ich verlassen, weil es unmenschlich war, schlimmer noch als dieser verlassene Ort hier.“
Bei der Einrichtung, von der O. spricht, handelt es sich um das ehemalige Wohlfahrtszentrum Giovanni XXIII in Marsala, das wir am gleichen Tag besichtigen.
Wie uns der zuständige Kommissar bestätigt, hat das Zentrum viele Schwierigkeiten, von denen sowohl die Mitarbeiter*innen als auch vor allem die Bewohner*innen ein Lied singen können. Zunächst ist da die Tatsache, dass die Einrichtung in zwei Abteilungen unterteilt ist – eine für alte Menschen und die andere für Migrant*innen. Es gibt nicht genügend Mitarbeiter*innen und die Bewohner*innen werden des nachts und am Nachmittag allein gelassen. Die Verteilung der Zimmer und die Verwaltung der Räumlichkeiten bleibt für die Migrant*innen gänzlich undurchsichtig, selbst wenn sie schon seit bis zu drei Jahren hier wohnen. Qualitätskontrolle gibt es keine und eine der häufigsten Beschwerden der Bewohner*innen betrifft die Frage der Sicherheit: „Ich bin von morgens bis abends bei der Arbeit“, erklärt uns Bewohner G., „und wenn ich nachts wiederkomme, sind da Leute, die sich betrinken, kiffen und sich daneben benehmen. Es gibt überhaupt keine Kontrollen, nur eine Person in der Telefonzentrale, aber die hat mit den Kontrollen nichts zu tun. Ich musste mir ein neues Vorhängeschloss für meine Tür kaufen. Ich muss mich nämlich selbst einschließen, aus Angst vor Diebstählen, die hier an der Tagesordnung sind. Hier gilt das Gesetz des Dschungels.” Wie im Falle von G., der entschieden hat, alleine in einer kleinen Abstellkammer zu schlafen, sind auch die anderen Zimmer mit neuen, von ihren Bewohner*innen gekauften Vorhängeschlössern verriegelt. Wir können nur die Zimmer der Leute besichtigen, die am Tag unseres Besuchs auch anwesend sind. Tatsächlich bestätigt unser Begleiter (ein Angestellter des Zentrums), dass die Schlösser allesamt von den Bewohner*innen angebracht worden sind und nur sie die Schlüssel haben. Es wohnen heute viel weniger Menschen hier, als den Bestimmungen gemäß möglich wäre. Das liegt an den Schwierigkeiten, die im Laufe der Jahre immer sichtbarer geworden sind: Von 100 Bewohner*innen zum Zeitpunkt der Eröffnung sind heute noch 30 geblieben. Die Räumlichkeiten sollen eigentlich renoviert werden (wie uns der Kommissar bestätigt), aber in dieser Hinsicht passiert seit Jahren rein gar nichts. Niemand kümmert sich um die alltägliche Instandhaltung der Gebäude und ihrer Innenräume, vor allem aber fehlt es an Zuwendung für die dort lebenden Personen, die sich vergessen und verlassen fühlen. Es riecht nach totalem Kontrollverlust, Anarchie und Selbstverwaltung bestimmen den Alltag.
Die hygienischen Zustände des Zentrums sind verheerend, es gibt keine Kleiderausgabe und ständig fehlen Betttücher und Decken. F. berichtet wütend: „Wir müssen den ganzen Tag auf dem Land schuften. Sie behandeln uns wie Tiere und beuten uns aus, aber das ist unsere einzige Chance, Geld für unsere Familien zu bekommen, da wir unser ganzes Taschengeld für das Allernotwendigste aufwenden müssen. Wenn wir nach Hause kommen, müssen wir uns einschließen, damit uns nicht alles gestohlen wird. Die Zimmer sind voller Schimmel und oft gibt es kein warmes Wasser. Sogar die Tiere haben mehr Trinkwasser als wir. Wir kriegen nur sechs Flaschen für zwei Wochen. Viele von uns haben die Flucht ergriffen und schlafen lieber auf der Straße, als weiterhin ausgebeutet zu werden. Ich habe gesundheitliche Probleme, sonst wäre ich auch längst weg.”
Noch viel problematischer erscheint die rechtliche Situation, da die Jugendlichen keinen Anwalt zugewiesen bekommen (im Zentrum sind rechtliche Berater*innen nicht vorgesehen). Deswegen wenden sich viele von ihnen eigenmächtig an Anwälte aus der Gegend, von denen manche aber – glaubt man den Aussagen unserer Gesprächspartner – bis zu 2.000 Euro für eine Berufungsklage verlangen.
Bei der Verabschiedung teilen wir dem Kommissar mit, dass wir die übergeordneten Institutionen und die humanitären Organisationen über die Zustände in der Einrichtung informieren werden, in der Hoffnung, dass sich die Lebensbedingungen dort so schnell wie möglich bessern mögen. Zur Zeit ist es nicht möglich, von „gelungener Aufnahme“ zu sprechen.
Alberto Biondo
Borderline Sicilia
Aus dem Italienischen übersetzt von Laura Strack