In Catania um nicht zu vergessen und gemeinsam für die Rechte aller zu kämpfen

Organisiert vom Antirassistischen Netzwerk Catanias, von
Borderline Sicilia, von Catania Città Felice und vom Netzwerk der Befreundeten Städte fand
letztes Wochenende in Catania eine Veranstaltung zum Gedenken an die 366 Opfer
der Katastrophe zur See am 3. Oktober 2013 statt.

Zu diesem Anlass
haben sich auch einige der 32 Migranten eingefunden, die am 30. September 2015
im Hafen von Catania nicht mehr weiterkamen, weil sie sofort eine
unrechtmässige Verweisung des Landes erhalten hatten. Sie waren darum ohne
Aufenthaltserlaubnis und absolut recht- und mittellos.

Alfonso
Di Stefano vom Antirassistischen Netzwerk Catania moderierte die Diskussion. Mit
dabei waren Fulvio Vassallo Paleologo von der Vereinigung Rechte und Grenzen und Abubakar Soumahoro von der internationalen
Vereinigung der Sans Papiers, Migranten, Flüchtlinge und Asylbewerber (CISPM- Coalition Internationale des Sans Papiers et
Migrants
). Bedauerlicherweise war der Bürgermeister von Riace aus
persönlichen Gründen verhindert an der Veranstaltung teilzunehmen.

Eröffnet wurde
der Abend mit einem Beitrag von Fulvio Vassallo Paleologo. Er erläuterte, dass
die Hotspots die aktuelle Misere in der Flüchtlingsaufnahme noch verschlimmern würden.
Europa plant 700 Agenten von Frontex zur Verstärkung innerhalb der Hotspots zu
entsenden – für die Identifikation und die Verteilung der Flüchtlinge.

Wie es bereits
jetzt geschieht, wird diese Praxis die Anzahl der Rückweisungen erhöhen. Zudem
haben die abgewiesenen Asylbewerber nicht die nötigen finanziellen Mittel, um
das Land zu verlassen, was bedeutet, dass die Zahl der sich illegal im Land
aufhaltenden Personen weiter ansteigen wird. Die Illegalität wiederum
verhindert, dass diese Migranten eine vertraglich geregelte Arbeitsstelle
suchen können, um ein menschenwürdiges Leben mit dem Anspruch auf die ihnen
zustehenden Rechte zu führen. All das ist das Resultat der absurden
Unterscheidung zwischen einem sogenannten Wirtschaftsflüchtling und einem
«richtigen» Flüchtling.

Der Beitrag
Abubakars beginnt mit der Betonung des Wandels der Haltung Europas, der in den
Medien klar ersichtlich ist: hin zu einer Entmenschlichung des Phänomens der
Migration.

Eines der grossen
bleibenden Probleme aller Interventionen bzgl. des aktuellen Phänomens der
Migration, ist die Tatsache, dass nur über die Notfallmassnahmen gegen die
Migrationströme diskutiert wird und nicht über deren Ursachen.

Das Vorgehen im «Notfallmodus»
bedeutet aber gleichzeitig ein Vorgehen gegen die Regeln – im Ausnahmezustand –
und nur ans hier und jetzt denkend. Es ist nicht auf die Zukunft ausgerichtet
und ohne den Anspruch auf nachhaltige Wirksamkeit. Diese Situation mit aufs
Minimum reduzierten Kontrollinstanzen und unlauteren Absichten ist der ideale
Nährboden für Spekulanten und Geschäftemacher. Die Besorgnis darüber wird noch
grösser, wenn die, welche diesen Machenschaften Einhalt gebieten sollten, sich
der herrschenden Mentalität anschliessen.

Auch er hat über
die Hotspots gesprochen. Er hat sie als Selektionsorte bezeichnet, in denen
eine Art erste «selektive Ernte» stattfindet. Es wird das Brauchbare und
Wiederverwertbare vom Nutzlosen getrennt, das dann entfernt wird. Auch das ist
ein Rückschritt im Vergleich zum Vorgehen vor Jahrzehnten, als noch die
qualifizierte Arbeitsmigration unterstützt wurde. In der aktuellen Krise ist
diese Art der Migrationspolitik nicht mehr erwünscht. Ausgewählt werden vor
allem junge Leute – als Mittel gegen die drohende Überalterung der zukünftigen Gesellschaft.

Eine der Ursachen
für die Migrationsströme ist die Politik des internationalen Währungsfonds und
der europäischen Zentralbank: diese Institutionen machen mit den afrikanischen
Staaten seit jeher das, was Europa heute mit Griechenland tut. Eine andere
Ursache ist der Erwerb von afrikanischem Agrarland durch China. Das hat zur
Folge, dass viele Bauern ihre Subsistenz verlieren, weggehen und dass diese
Gebiete verarmen.

Frontex wurde
allein im Jahr 2015 mit 114 Millionen Euro finanziert. Eine unverhältnismässige
Summe – währenddie Zahl der Toten im Mittelmeer weiter steigt. Aber es wäre
eine qualitative Analyse der Ziffern nötig und nicht eine quantitative; genauso
wie eine tatsächliche soziale Gerechtigkeit und nicht nur solche auf dem
Papier. Reisen ist ein Privileg, aber nur für jene, die die finanziellen Mittel
dafür haben, die andern sind davon ausgeschlossen. Erinnern wir uns daran, dass
in Calais 6000 Personen (manche seit Jahren) im Wald leben und dass dort jeden
Tag Menschen sterben, beim Versuch die Grenze zu überqueren.

Die Rückweisungen
demonstrieren die Tatsache der Ungleichheit vor dem Gesetz. Vielen wird (zum
Beispiel) das Recht auf Verteidigung oder die grundlegende Unschuldsvermutung
nicht zugestanden und gewährt.

Abu beendet seine
Rede: wenn wir uns für die Rechte der Migranten einsetzen, kämpfen wir für die
Rechte aller. Denn die ganze Gesellschaft steuert auf eine Einschränkung ihrer Rechte
hin – heute die ihren – morgen die unseren. Die Migranten unter uns zeigen uns
das deutlich mit ihrer, wenn auch schweigsamen, Anwesenheit.

Die Veranstaltung
ging mit der Projektion des Dokumentarfilmes von Antonino Maggiore “Lampedusa 3
ottobre 2013: i giorni della tragedia” zu Ende. Der Film betont, mithilfe der Bilder
über die Tage nach der Katastrophe, die Forderung, dass die gerichtliche
Untersuchung über die unterlassene Hilfeleistung beim Schiffbruch und die
fragwürdige Verbindung zwischen den staatlichen Migrationsbehörden und der Militarisierung
der Operationen neu untersucht werden muss.

Am nächsten
Morgen, es ist Sonntag, treffen wir uns vor dem CARA* in Mineo mit einigen Vertretern
der antirassistischen Vereinigungen und Abubakar in der Absicht mit den
Migranten zu sprechen. Vor dem CARA trafen wir nur wenige von ihnen an. Einige
gingen an uns vorbei ohne uns anzuschauen, andere nahmen schnell unsere übersetzten
Flugblätter und nur eine kleine Gruppe von zehn Leuten gesellte sich zu uns.

In letzter Zeit
scheint es allgemein schwieriger zu sein, die Aufmerksamkeit der Migranten vor
dem Eingang des CARA zu gewinnen. In Anbetracht der dort platzierten
Ordnungskräfte kann man das Misstrauen der Überwachten verstehen und auch, dass
sie ihre Hoffnung in die Solidarität der italienischen Gesellschaft verloren
haben. So wie D. aus Pakistan, seit eineinhalb Jahren in Mineo. Er bleibt nicht
mehr als 15 Minuten stehen. Er betrachtet das Flugblatt und diskutiert mit
Abubakar. Er scheint interessiert – doch mit seinem Mobiltelefon stets in der
Hand ist er auf dem Sprung, sich jederzeit zu entfernen. D. vertraut uns an,
dass er auf die Ausstellung seiner gewährten Aufenthaltserlaubnis „aus humanitären
Gründen“, wartet. Er hat sie nach 18 Monaten Wartezeit erhalten. Sobald er sie
in den Händen hält, kann er endlich aus dem CARA wegziehen. „Hier riskiere ich
verrückt zu werden, man wird depressiv, es gibt keine Hilfe, um später Arbeit
zu finden oder in Italien zu leben, darum habe ich mich entschieden.“

Es geht zudem um
die Lebensbedingungen innerhalb des Zentrums in unserer von Abu mit grosser
Klarheit und Bereitschaft zum Zuhören geleiteten Unterhaltung.

Wir begegnen
einigen der Überlebenden des Schiffbruches vom 18. April diesen Jahres, die ebenfalls
eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen erhalten haben. Wir können
uns auf englisch und französisch unterhalten und hören die Schilderungen ihrer
gegenwärtigen Situation. Wir versuchen unsererseits, die aktuelle und
zukünftige Politik Europas und die Veränderungen, die sich dadurch für sie auf
italienischem Territorium ergeben, darzustellen. Abubakar weist auf die Konferenz
zwischen der Europäischen und der Afrikanischen Union auf Malta hin, die im
November stattfinden wird. Er erwähnt die zunehmende Menge der Einsprüche gegen
die Rückweisungen, er spricht über die Wichtigkeit von denen, die als
Landarbeiter in den Feldern arbeiten, zu erfahren was sie an Einschränkungen
und Missbräuchen – basierend auf den aktuellen Gesetzen – erleben.

Die Migranten
hören zu und stellen Fragen. Sie scheinen wirklich interessiert an der
Diskussion und einige von ihnen möchten mit uns Kontaktdaten austauschen.

Sie sind
einverstanden mit der Einreichung einer kollektiven Beschwerde über die
aktuelle Situation, um wenigstens die rechtliche, gesundheitliche und soziale
Unterstützung, die innerhalb der Zentren gesetzlich vorgeschrieben ist, zu
erhalten.

Das Schweigen
brechen, ein Beispiel geben und Solidaritätsnetze bilden – sie sollen ihre
Rechte einfordern und Vorschläge machen. Das legt Abu ihnen nahe. Er erinnert
sie daran, dass sie für viele hundert ihrer Kameraden die tödliche Reise übers
Meer überlebt haben und dass die grössten Sorgen, jetzt, da sie hier sind,
überstanden sind. Die jungen Männer gehen wortlos weg und wir hoffen im Stillen,
dass das tatsächlich stimmt.

Giulia Freddi

Lucia Borghi
Borderline
Sicilia Onlus

*CARA –
Centro di accoglienza per richiedenti asilo: Aufnahmezentrum für Asylsuchende

Übersetzt aus dem
Italienischen von Susanne Privitera Tassé Tagne