Neue Anlandungen und hunderte von Abschiebungen in Pozzallo und auf Lampedusa
Anlässlich unseres Besuchs im Hotspot von Pozzallo vor einigen Tagen haben wir wiederholt nach Erklärungen gefragt, wie die Trennung der „Wirtschaftsflüchtlinge“ von den Asylbeantragenden erfolgt. Die Beamtin der Präfektur hat es uns erklärt: Nachdem die Anlandung abgeschlossen ist, werden die Geflüchteten mit einem Bus in das Zentrum verlegt, das nur wenige hundert Meter entfernt liegt; sie werden durch einen Seiteneingang, der direkt zum Hafen führt, in das Gebäude gebracht; dort gibt es ein erstes Gesundheitsscreening; danach folgt sofort die Voridentifikation mit dem Ausfüllen des sogenannten „Meldezettels“, mit dem nach den Motiven für die Flucht geforscht wird.
Bezüglich der Möglichkeit, die OIM*, UNHCR und Save the children haben, den Migrant*innen juristische Informationen zu geben bevor diese der Voridentifikation unterzogen werden, wurde uns erklärt, dass die o.g. Organisationen die Migrant*innen schon im Augenblick der Anlandung und der Verlegung abfangen und ihnen Informationen geben können, um dann ihre Arbeit nach der Voridentifikation fortzusetzen. Da wir bei den Ankünften anwesend waren, wissen wir, dass es nicht möglich ist, mit den Migrant*innen im Moment der Anlandung Kontakt aufzunehmen, weil sie sofort von der Mole zum Bus gehen müssen. Wir stellen daher fest, dass die wenigen nutzbaren Augenblicke für die vorgenannten Informationen die paar Minuten während der Busfahrt sind. Wirkliche Informationen durch die akkreditierten Organisationen können daher nur in einem zweiten Schritt gegeben werden, nach dem Ausfüllen des „Meldezettels“; dabei bleibt allerdings die große Schwierigkeit, den individuellen Schutz einer großen Anzahl von Menschen unterschiedlicher Nationalität zu garantieren, wie es vom Gesetz und den nationalen wie internationalen Normen vorgesehen ist, den Schutz von Menschen, die oft auch durcheinander sind, weil sie Überlebende einer Meeresüberfahrt sind; und es bleibt die Schwierigkeit, dass nur beschränkt Zeit zur Verfügung steht, um mit Jedem ausgedehnt und wirkungsvoll zu sprechen. Wir hören nach wie vor von der Präfektur, dass es diese Woche für die Geflüchteten im Hotspot, die nicht sofort Schutz beantragt haben, ein zweites Interview geben wird, dieses Mal nach den Informationen von OIM und UNHCR. Es scheint so, dass zu dieser Gelegenheit bei einigen Migranten der Entschluss gereift ist, Schutz zu beantragen. Andere wiederum bestätigen, dass sie wegen Arbeitssuche nach Italien gekommen sind; auf diese Art beantragen sie eine sichere Ausweisung.
Diese Informationen haben wir am Montag erhalten, als wir schon von den Maßnahmen zur „aufgeschobenen“ Abschiebung wussten, die einigen Dutzend Migrant*innen aus Marokko mitgeteilt wurden; sie wurden auf die Straße gesetzt und haben Pozzallo am Wochenende mit dem Bus verlassen. Leider war das nur der erste Trupp einer großen Gruppe weiterer Marokkaner*innen, aber auch Nigerianer*innen, Sudanes*innen und Pakistaner*innen. Die Gruppe hat sich in den vergangenen 48 Stunden außerhalb des Zentrums wiedergefunden und war lediglich mit der üblichen Verordnung ausgestattet, die sie auffordert, Italien innerhalb von 7 Tagen zu verlassen. Während sie in Pozzallo umherstreiften haben wir sie abgefangen. Viele waren ohne Strümpfe und in Plastiklatschen, und haben uns unterschiedliche Geschichten erzählt. Mit einigen von ihnen hatten wir auch im Zentrum ein paar Worte gewechselt, dort allerdings begrenzt auf kurze Sätze, mehrfach unterstrichen von der Aussage, dass „es überhaupt keine Probleme gab“. Ein junger Mann aus Nigeria erklärt uns, dass er bis zuletzt vorgehabt habe, internationalen Schutz zu beantragen, weil er aus seinem Land wegen der Probleme mit Boko Haram geflohen sei; er hat eine Frau und Kinder in Holland und er hat das sofort der Polizei und allen Leuten gesagt, denen er begegnet ist, . „Als ich gefragt habe, ob ich verpflichtet sei, Fingerabdrücke abnehmen zu lassen, haben sie mir gesagt, dass ich es tun müsse, aber sie haben mir nicht gesagt, was das bedeutet“, sagt er. Er erklärt, dass nach und nach bei ihm die Entscheidung gereift sei, internationalen Schutz zu beantragen, auch durch die Informationen, die er vom UNHCR bekommen habe; aber das letzte Gespräch mit der Polizei hat ihn davon abgehalten. „Als sie mich aufgerufen haben, herauszukommen, haben sie mir gesagt, ich soll entscheiden, was ich machen will: Entweder den Antrag auf internationalen Schutz und ein, zwei Jahre in Italien bleiben oder zu meiner Familie nach Holland gehen. Ich war durcheinander und außerdem erschrocken, und ich habe gesagt, dass ich zu meiner Familie gehen will. Dann haben sie mir gesagt, ich soll den Zettel unterschreiben (die Abschiebung), ohne dass sie ihn mir vorgelesen oder übersetzt hätten; sie haben mir gesagt, dass ich sieben Tage Zeit habe, Italien zu verlassen. Und jetzt bin ich hier.“ Schwerwiegende Erklärungen, die den Schluss nahelegen, dass von Seiten der Ordnungskräfte adäquate Informationen bezüglich der Asylgesetzgebung und des Inhalts der bekanntgemachten Maßnahmen total fehlen. Viele Migranten erklären, dass man ihnen gesagt hat, dass sie in anderen Ländern problemlos Asyl beantragen könnten.
Auch bei einem anderen jungen Mann kann man eine ähnliche Vorgehensweise feststellen; er berichtet uns tatsächlich Folgendes: „Bevor ich raus bin, wurde ich von der Polizei gefragt, was ich vorhätte und ich habe gesagt, dass ich internationalen Schutz beantragen wolle, aber nicht in Italien sondern in Holland, wo ich Bekannte habe. An diesem Punkt haben sie mir gesagt, dass ich ein Blatt unterschreiben solle und dass ich sieben Tage Zeit habe, um wegzugehen. Dann haben sie mich gefragt, wieviel Geld ich hätte, und sie haben mir eine Telefonaufladung von 5€ gegeben. Ich dachte, dieses Schreiben würde mir auch erlauben zu reisen, aber jetzt habe ich diese ganzen Dinge entdeckt“. Nach dem, was die jungen Männer sagen, blieben gestern Abend nur noch fünf Personen im Hotspot von Pozzallo, im Gegensatz zu den 140 Migrant*innen, die am Montag anwesend waren. Viele sind wie sie abgeschoben und aus dem Zentrum entlassen worden, bevor es Tag wurde. Die Verfügungen der „aufgeschobenen“ Abschiebungen, die dreien der Migrant*innen, die wir getroffen haben, mitgeteilt wurden, enthalten allerlei Fehler. Nachdem sie eine Nacht unter freiem Himmel verbracht haben, haben die jungen Männer einen Anwalt getroffen, um gegen die Verfügung Einspruch einzulegen und Schutz zu beantragen.
Die Abschiebungen gehen auch auf Lampedusa weiter. Von der Insel werden die abgelehnten Personen nach Agrigent gebracht. Dort haben wir vorgestern Abend auch einen minderjährigen Jugendlichen abgefangen, der auf dem Meer gerettet wurde. Er wurde in den Hotspot von Lampedusa gebracht, dort als Erwachsener registriert und trotz gravierender Gesundheitsprobleme auf die Straße gesetzt.
Unterdessen hat uns gestern die Nachricht erreicht, dass 600 Migrant*innen in Augusta angekommen sind, während in Pozzallo das Marineschiff Bettica mit 483 Personen angelegt hat. Unter ihnen sind viele Frauen, von denen mindestens 15 schwanger sind und Minderjährige, vor allem aus Afrika südlich der Sahara und vom Horn von Afrika. Zu den erkannten Nationalitäten gehören Eritrea, Sudan, Nigeria, Marokko, Somalia. Die Durchführung der Anlandung verlief auch gestern sehr langsam: Das Schiff ist gegen 10 Uhr angekommen, aber um 16 Uhr waren noch etliche Migrant*innen an Bord. Zusammen mit den Ordnungskräften waren einige Mitarbeiter*innen von Frontex anwesend; sie waren, wie bei der letzten Anlandung in Pozzallo, mit einer Erkennungsweste mit dem eigenen Abzeichen ausgestattet; die Weste hatte aber die gleiche Farbe wie die der Mitarbeiter*innen des UNHCR! Eine überaus irreführende und gefährliche Wahl für die Migrant*innen, die angesprochen wurden. Am Hafen treffen wir dann OIM, Save the children, Terres des Hommes, UNHCR und Ärzte ohne Grenzen, die mit zwei Mediziner*innen anwesend sind, das Rote Kreuz, ASP* und einige Vertreter von Emergency*. Die Untersuchungen der Polizei beginnen sofort und ziehen sich auf dem Landungssteg einige Minuten hin; einige Migrant*innen werden von anderen getrennt oder zu den Wagen der Ordnungskräfte geführt. Die Anderen werden sehr langsam heruntergeführt, von der Spurensicherung fotografiert, mit einem Hygiene-Kit und mit Badeschlappen ausgestattet und durchsucht, bevor sie den Bus besteigen. Einem von ihnen wurde plötzlich schlecht, als er nach einigen Stunden wieder festen Boden unter den Füßen hatte, während andere sichtbar fertig waren; aber sie haben den Rhythmus der Polizei und der Sicherheitskräfte zu befolgen. Wir wissen, dass ungefähr 250 von ihnen, vermutlich diejenigen, die Schutz beantragen, schon nach dem Gesundheitsscreening und der ersten Identifikation, in die Toskana und zu anderen Zielen verlegt wurden. Daher rührt die Besorgnis, ob es noch einmal eine Möglichkeit gibt, sie auf sachgemäße Weise zu informieren, bevor sie den „Meldezettel“ bekommen. Den Mitarbeiter*innen vom UNHCR gelingt es, diese im Bus zu verteilen, der heute glücklicherweise einige Minuten länger auf der Mole steht; aber offensichtlich sind das keine geeigneten Bedingungen und Zeiten, um in angemessener Weise einen individuellen Schutz zu gewährleisten.
Für heute Nachmittag wird in Pozzallo die Ankunft weiterer 239 Migrant*innen erwartet.
Bleibt also nur, noch einmal die Wiederholung des despektierlichen Umgangs mit dem Recht auf Information hervorzuheben, zum Nachteil auch des jüngsten Rundschreibens bezüglich der „Garantie und der Art und Weise des Zugangs zum Asylverfahren“, das am 8. Januar vom Innenministerium herausgegeben wurde. Im Blick aber auf denjenigen, der bleibt, möchten wir gerne wissen, ob sich auch dieses Mal der Hotspot als Fabrik für Abschiebung und diskriminierende Auswahl der Migrant*innen auf der Flucht erweist und die Abgestumpftheit des neuen politischen Systems Europas und Italiens zeigt.
Lucia Borghi
Borderline Sicilia Onlus
*OIM: Internationale Organisation für Migration
*ASP: Azienda Sanitaria Provinciale = Gesundheitsbehörde der Provinz
*Emergency: humanitäre italienische Organisation, die kostenlose medizinische und chirurgische Behandlung anbietet
Übersetzung aus dem Italienischen von Rainer Grüber