Das Schweigen vor und nach der Landung. Stimmen aus der Hölle Libyens.

Am 25. Februar kamen im Hafen von Augusta die Leichen von fünf Migrant*innen an. Sie waren an Bord des Militärschiffes Cigala Fulgosi gewesen, das bei vier verschiedenen Einsätzen Geflüchtete an Bord genommen hatte. Die Aufmerksamkeit der nationalen Medien wandte sich wieder für einen Tag den Anlandungen zu, was vorhersehbar und gewöhnlich erscheint, wenn die Ankunft der Migrant*innen von Menschen begleitet wird, die die Überfahrt nicht überlebt haben, vor allem wenn es sich um höhere Anzahl an Toten handelt. Leider kam genauso vorhersehbar und pünktlich auch das Schweigen, das auf die Meldung folgte. Die Meldung war dafür bestimmt, für einige Minuten und in wenigen Worten die nationale Öffentlichkeit zu erreichen, um dann in Vergessenheit zu geraten, wie viele Ereignisse der täglichen Berichterstattung.

Wie in Kriegsberichten wurde die Zahl der Toten mitgeteilt, quasi ein Pflichtakt, um das eigene Gewissen zu beruhigen, während erneut deutlich mehr Aufhebens gemacht wurde um die Verhaftung mutmaßlicher Schlepper, von denen Fotos verbreitet werden, Informationen zu ihrer Nationalität und den genaueren Umständen ihrer Verhaftung durch die Ordnungskräfte. Doch wird nicht Bezug genommen auf die Umstände, die sie ans Steuer der Boote gebracht hatten. Leider sind die Manipulationen der einen Ereignisse und das Verschweigen Anderer auf einer Linie mit den politischen Entscheidungen der europäischen Regierungen im Bezug auf das Lenken der Migrationsströme. Die europäische Politik äußert sich in Kontrollmechanismen, Diskriminierungen, in der Militarisierung und der summarischen Auslese von Migrant*innen, die aufgenommen werden, und Migrant*innen, die nicht aufgenommen werden.
Stille ist plötzlich um die Ermittlungen eingetreten, die die Todesursachen der fünf in Augusta angekommenen Migrant*innen klären sollten. Angegeben wurde Tod durch Ersticken, doch unter völlig ungeklärten Umständen – unklar nicht für diejenigen, die sich durch die Berichte und Treffen mit Ankommenden vorstellen können, wie die Bedingungen bei der Abfahrt in Libyen aussehen. Es sind Situationen an der Überlebensgrenze, über die sich selten Nachrichtenmeldungen finden und die häufig nur von Zeichen auf den Körpern der Geflüchteten bezeugt werden. Einige Migrant*innen, die wir letzte Woche am Hafen von Augusta getroffen haben, haben uns selbst davon erzählt. „Vor der Einschiffung haben wir uns einen Monat in Libyen aufgehalten, eingesperrt in einer Art Gefängnis“ sagt Y., ein junger Mann aus Kamerun. „Einmal am Tag gab es etwas zu essen, und man wurde systematisch von den Libyern geschlagen. Als einige ihrer Geschäfte schief liefen, ließen Sie sich an mir und den anderen Jugendlichen aus, die wir auf die Abfahrt warteten. Während dieser ganzen Zeit sah ich drei Personen verschwinden, weil sie sich weigerten, Zigaretten zu geben, oder weil sie im falschen Moment redeten. Sie wurden gewaltsam weggebracht und kamen nicht wieder. Aber all das war nichts verglichen mit der Hölle, die ich vorher gesehen habe.“ „Vorher“, damit deuten Y. und seine anderen Weggefährten Diebstähle, Überfälle, Monate der Gefangenschaft und Gewalt zusammen mit anderen kaum vorstellbaren Brutalitäten an. „In Libyen ist es unmöglich zu überleben, wenn du eine schwarze Hautfarbe hast und dich nicht versteckst. An jeder Straßenecke kann es passieren, dass du bewaffneten Jugendlichen begegnest, Polizist*innen oder einfachen Einwohner*innen, die bereit sind, dich ohne Grund zu töten. Denn du bist unsichtbar, ohne Papiere, ohne irgendetwas.“ sagt ein anderer junger Mann aus Gambia. „Ich bin für drei Monate in Libyen geblieben und habe alles gemacht, was ich befohlen bekam, weil ich keine Wahl hatte. Auch wenn du dich einmal entscheidest zu gehen, dann kannst du dich nicht zurückziehen, egal wie die Bedingungen sind, sonst werfen sie dich einfach raus“. „Wir waren nur zwei Tage auf dem Meer, auch das ist Glück.“ fügt ein Mann in unserer Nähe hinzu „um meine Familie hierher zu bringen, habe ich zwei Jahre lang in Libyen gearbeitet. Mit dem Geld hätte ich bis nach Amerika fahren können. Aber jetzt ist nur wichtig, lebend angekommen zu sein“. Unter den angekommenen Migrant*innen sind viele, die ihr Glück betonen, überlebt zu haben, nach einer Fahrt gemeinsam mit denen, die nicht überlebt haben. Manche kann man noch ansehen, dass sie den Tod gesehen haben, so wie der junge Ehemann einer der verstorbenen Frauen, der abseits sitzt und starr ins Leere blickt, der nicht das Boot verlassen konnte bevor der Leichnam seiner Frau von Bord gebracht wurde. Ein Anderer will unbedingt erzählen, was er gesehen hat: „Auf meinem Schlauchboot war es so eng, dass ich einen großen Teil der Überfahrt lang dachte, von einem Moment auf den anderen ins Wasser fallen zu können, so sehr waren wir zusammengepfercht. Ein junger Mann auf unserem Boot ist gestorben, doch ich habe es erst nach einiger Zeit gemerkt, und da habe ich angefangen zu weinen, weil ich dachte, dass es mit mir zu Ende geht, wie mit den anderen, vergessen auf dem Meeresgrund. Jetzt, wo ich angekommen bin, muss ich davon reden, was auf dem Meer geschieht, damit alle es wissen.“ Eine Gruppe von Frauen aus Kamerun unterhalten sich über die tragische Situation, die sie gezwungen hat, ihr Heimatland zu verlassen. Sie machen uns darauf aufmerksam, wie viele kleine Kinder sich unter den angelandeten Personen befinden: „Auf meinem Boot waren mindestens drei Kinder unter zwei Jahren. Nur wer keine Wahl hat, macht sich mit so kleinen Kindern auf den Weg“. Es werden immer mehr Erzählungen und die Nachfragen beginnen, sich auf den neuen Zielort nach der Verlegung zu konzentrieren. Dies wird nun langsam zum beherrschenden Gedanke, der die Neuankömmlinge leiten wird.
Die Ungeduld, die Zielorte und die Wartezeiten auf zukünftige Verlegungen zu erfahren, kennzeichnet auch einige Migranten, die wir in den darauf folgenden Tagen in Pozzallo treffen. Ihnen wird erlaubt, den Hotspot in der Nähe der Stadt während des Morgens und des Nachmittags zu verlassen, unter der Bedingung, dies vorab mit der Polizei und dem Personal des Hotspots abzustimmen. Sie tragen am Handgelenk ein Armband mit ihrer Identifikationsnummer und an den Füßen Flip-Flops aus Plastik, die sie bei der Ankunft bekommen haben: „Ich bin seit 14 Tagen hier. Mir wurde gesagt, ich werde in Kürze in ein anderes Zentrum verlegt, doch bisher nichts“. Es handelt sich um einen Jugendlichen aus Gambia, zu dem sich ein junger Mann aus Eritrea gesellt, und allmählich ein Dutzend anderer Migrant*innen vorwiegend aus Nigeria und Mali. Viele sind seit mindestens einer Woche im Hotspot – im Gegensatz zu den vermeintlichen 48/72 Stunden maximalen Aufenthaltes, die im Gesetz für CPSA* vorgesehen sind. Für die Hotspots wurde noch kein gesetzlich festgelegter Rahmen geschaffen. „Seitdem wir angekommen sind, haben sie uns nur Wechselwäsche, ein Paar Hausschuhe und eine Telefonguthabenkarte im Wert von 5 Euro gegeben. Wir sind viele im Zentrum, Duschen wird zu einer Unternehmung und das Wasser ist immer eiskalt“ fahren die jungen Leute fort. „Wir schlafen alle in einem Gemeinschaftsraum, Männer, Frauen und Kinder. Das Essen kenne ich nicht, mir persönlich ist es über, denn jeden Tag essen wir Nudeln, und die Portionen sind wirklich klein.“ Wir fragen, ob die Informationen, die sie erhalten haben, übersetzt und verstanden wurden, und ob sie wüssten, welches ihre aktuelle rechtliche Situation sei: „Am Anfang haben sie mir Fingerabdrücke abgenommen, ohne Gewalt anzuwenden. Ich habe das Verfahren für das internationale Schutzgesuch eingeleitet, doch sicher habe ich nicht gut verstanden, welches nächsten Schritte mich erwarten, auch weil ich in diesem Moment nur daran denke, wann ich verlegt werde. Leider sprechen sie im Zentrum alle nur Italienisch, und was ich weiß, ist, dass ich abwarten muss, doch ich frage mich, wie lange noch“. Die Situation ist bei mindestens fünf der Anwesenden ähnlich, darunter der junge Mann aus Eritrea. Wir wissen, dass der UNHCR und die IOM* bei den letzten Ankünften Informationen zur Rechtslage durchgegeben haben. Was wir heute von den Migrant*innen hören, ist dennoch große Frustration und Ungeduld, das Zentrum verlassen zu können. Darüber hinaus hören wir neue Aussagen dazu, wie im Hotspot die vom Gesetz vorgesehenen Aufnahmebedingungen und -vorschriften nicht eingehalten werden. „Ich wollte nach anderer Kleidung fragen, da ich häufig friere, und nach einem Telefonguthaben, um meine Familie anzurufen. Doch das habe ich gelassen, denn deswegen hätte ich wahrscheinlich länger bleiben müssen“. Die Erzählungen über die Erlebnisse vor der Ankunft setzen sich fort, über die Neugier auf das neue Land und die Leute, denen sie begegnen werden. Als der Moment naht, an dem sie wieder in den Hotspot müssen, kehrt auch die Sorge wieder zurück, noch lange dort bleiben zu müssen: „Wir schaffen es drinnen fast gar nicht, uns zu bewegen. Wir können gar nichts machen, wenn wir nicht wie jetzt nach draußen gehen. Wir haben kein Geld. Wie lange noch?“ Dies ist die einzige Bitte, die in einer extrem unbefriedigenden Situation gestellt wird. Bald wird diese von der Sorge über die Verzögerung der Ausstellung von Ausweisapieren ersetzt, wie wir in vielen Erstaufnahmezentren sehen. Doch es braucht wirklich nicht viel, um zu verstehen, wie das Beharren darauf grundsätzlich auf den Zustand der Angst und Verlassenheit zurückzuführen ist, in der die Migrant*innen tage- und wochenlang versetzt werden, was auch Monate und Jahre andauern kann. Ihnen wird es unmöglich gemacht, sich auszudrücken oder eine konstruktive Möglichkeit der Auseinandersetzung mit denen zu finden, die sie im Ankunftsland willkommen heißen sollten und das Entstehen eines Zusammengehörigkeitsgefühls fördern müssten. Manchmal reicht es, ein paar Stunden zuzuhören. Doch angesichts der Gleichgültigkeit und verschiedener Ausgrenzungsmechanismen, die das System täglich um sie herum erzeugt, bereits vom Moment der Landung an, schaffen es viele Migrant*innen nicht, anders damit umzugehen, als sich an die Hoffnung auf einen besseren Ort zu klammern oder an ein Stück Papier, um sich in der Wahrnehmung ihres Rechts auf Freiheit stärker fühlen zu können, im Inneren eines Europas, das immer mehr zur Festung wird.

Lucia Borghi
Borderline Sicilia Onlus

* CPSA – Centro di Primo Soccorso ed Accoglienza: Erstaufnahmezentrum
* IOM: Internationale Organisation für Migration

Übersetzung aus dem Italienischen von Johannes Majoros-Danowski