Neue Landungen, zwei Tote: Unsichtbare Hindernisse die Geflüchteten begegnen
Weiterhin werden innerhalb von wenigen Stunden Tausende von Migrant*innen in der Meeresenge von Messina gerettet. Zu Beginn der Woche sind über 2000 Geflüchtete an den italienischen Küsten und in den Haupthäfen Siziliens, in Augusta, Trapani, Pozzallo, Messina und Palermo gelandet. Montagnacht wurde eine Gruppe von zehn Migrant*innen tunesischer Nationalität, ein paar Meilen entfernt vom Hafen Marsalas in einem heruntergekommenen Kahn durch Boote der Küstenwache aufgefunden. Zwei Migrant*innen sind auf der Überfahrt gestorben, da anscheinend der Motor des Bootes, auf dem sie reisten, explodierte.
Die Abfahrten aus Libyen und anderen Staaten führen sich also weiter fort, sowie die Verfahren zur Feststellung der Identität und die Ermittlungen an Bord der Triton-Schiffe. Auch die Landungen und das offensichtliche Scheitern des Hotspot-Ansatzes dauern an. Dies sind Meldungen, die wirklich wenig mediale Aufmerksamkeit bekommen, was kein Zufall ist, wie wir behaupten können. Die Ankunft von gut 738 Migrant*innen am Dienstag im Hafen von Augusta erscheint in den Zeitungen nur verbunden mit der Nachricht der darauffolgenden Verhaftung von fünf vermeintlichen Schleppern im Alter von 20 bis 23 Jahren, gefolgt von den üblichen Lobliedern auf die Ermittlungsverfahren der Polizei. Die öffentliche Aufmerksamkeit wird strategisch auf wenige Ereignisse gelotst, während andere Meldungen unsichtbar und komplett aus dem Zusammenhang gerissen bleiben. Ein paar der Migrant*innen, die in Augusta angekommen sind, haben die Überfahrt auf einem winzigen Boot, das nur um die 20 Personen fassen konnte, am Limit der Überlebenschancen überstanden, während zur gleichen Zeit gut 116 unbegleitete Minderjährige gerettet und in ein Zentrum in Großraum Syrakus gebracht wurden. Es handelt sich um eine ausgesprochen große Gruppe, die hoffentlich auch in Zukunft in anderen Einrichtungen der Region aufgenommen werden kann, auch wenn immer häufiger von der Öffnung neuer Aufnahmezentren in Augusta selbst die Rede ist. Es scheint hierbei keine Rolle zu spielen, dass nicht die günstigsten Voraussetzungen dafür bestehen, dass die Begegnung der Migrant*innen mit der örtlichen Bevölkerung in der Vergangenheit nicht immer erfolgreich war, dass der Landkreis und das Polizeipräsidium mittlerweile lange Wartezeiten vorsehen und die örtlichen Ressourcen limitiert sind. Die größte Dringlichkeit wären die Schaffung von Arbeitsplätzen und Investitionschancen, Unter anderem trifft es die kostengünstigen Arbeitskräfte für die saisonale Plantagenarbeit. Folgendes ist denjenigen geschehen, auch unbegleiteten Minderjährigen, die angekommen sind und deren Schutz und das Recht auf den Beginn eines Verfahrens zum Erhalt von Papieren auf jeden Fall gewährleistet wurde: Sprachbarrieren, bürokratische und physische Hindernisse entlang ihrer Zukunft in unserem Land. Diese machen sie unsichtbar und schließen sie aus der Gesellschaft aus, in der sie jahrelang leben.
Andere Hindernisse warten unterdessen auf die 487 Migrant*innen aus Eritrea, die letzten Dienstag in Trapani ankamen: Sie blieben im Hotspot von Milo zusammen mit gut 50 unbegleiteten Minderjährigen und fanden sich der berühmten europäischen Politik der Relocation gegenüber gestellt. Ein Europa, das selektieren, kontrollieren und zurückweisen will, findet sich mit Männern und Frauen konfrontiert, die weiterhin bereit sind ihr Leben zu riskieren, um ihrer Idee von Freiheit zu folgen. Ein Projekt, das dazu fähig ist, das komplette wirtschaftliche und politische System, wie wir es kennen, in Krise zu stürzen und deshalb unter Beobachtung stehen muss: Wir fragen uns, obwohl wir wissen, dass psychischer Druck und physischer Zwang inzwischen Praxis geworden sind, was erwartet jetzt diejenigen, die sich weigern ihre Fingerabdrücke abzugeben?
Das maximale Aufnahmevermögen wurde auch im Hotspot von Pozzallo erreicht, wo im Laufe des gestrigen Tages 245 Migrant*innen ankamen, die auf der Reise zwei Leidensgenossen im Meer sterben sahen. Denn im Meer dauert das Sterben noch an, auch wenn man darüber keine Meldungen mehr liest. Ein weiteres Mal ist die Aufmerksamkeit hauptsächlich auf vermeintliche Schleuser gerichtet. Angesichts dieser Meldungen ist die Sorge darum, was die Überlebenden erwartet, noch viel größer. Werden sie Unterstützung und einen angemessenen Empfang erhalten, der ihnen in der Einrichtung zusteht? 150 wurden bereits aus unserer Region versetzt, aber viele Andere, darunter unbegleitete Minderjährige, riskieren tagelang wie viele vor ihnen im Hotspot wie in einer Falle zu bleiben.
Überbelegung an den Ankunftspunkten, Mangel an individuellem Schutz, mangelnde Plätze für Migrant*innen in Relocation-Maßnahmen, Verlegungen von unbegleiteten Minderjährigen in Notstrukturen, die nicht nur als Übergangslösung dienen, sondern zu Orten der Verwahrlosung werden. Dies alles geschieht, während im CARA in Mineo* neue Ankömmlinge aus dem Hafen von Palermo verzeichnet werden. In Mineo wird immer noch und zum Trotze jeglicher Anzeigen und laufenden Ermittlungen mit den großen Zahlen gespielt.
Von dem Moment der Rettung im Meer an treffen die Migrant*innen, die es schaffen zu überleben, auf einen Weg voller unsichtbarer Mauern und Barrieren, die ihren Alltag begleiten und von unseren politischen Entscheidungen bestimmt werden. Es handelt sich um eine Reise, die sich oft durch unsere Gleichgültigkeit schlängelt, welche in dem Moment zu Unmenschlichkeit wird, wenn wir den Blick woanders hin richten, als wäre nichts, während im Meer weiterhin Menschen sterben.
Lucia Borghi
Borderline Sicilia
*CARA – Centro di accoglienza per richiedenti asilo: Aufnahmezentrum für Asylsuchende
Übersetzt von Barbara Staudenmaier