Fondachelli – Fantina: 130 unbegleitete Minderjährige in einem Dorf mit 1100 Einwohnern
Es ist nicht einfach, von den Bedingungen in den Aufnahmeeinrichtungen in Fondachelli-Fantina zu berichten, einer kleinen Gemeinde zwischen den Bergketten der Monti Peloritani und der Monti Nebrodi in der Provinz Messina. Hier leben neben 1100 Bürger*innen auch 150 Asylsuchende, 130 von ihnen sind minderjährig. Sie sind in vier Einrichtungen untergebracht, die alle von der Gemeindebehörde selbst betrieben werden. Wir begannen unsere Reise nach Fondachelli-Fantina in Catania und waren zwei Stunden unterwegs, den Großteil davon auf Landstraßen, denn die nächste Autobahnzufahrt ist die von Giardini, und die ist 40 km entfernt.
Das letzte Dorf vor unserer Ankunft ist Francavilla. Nun ist es noch mehr als eine halbe Stunde bis nach Fondachelli – Fantina. 12 km entfernt von Fondachelli – Fantina ist Novara di Sicilia und mehr als 20 km sind es bis nach Barcellona Pozzo di Gotto, das nächste urbane Zentrum, zu dem die Gemeinde Fondachelli auch gehört.
Wir halten diese Informationen fest, um anhand objektiver Daten eine der sofort erkennbaren Charakteristiken der Aufnahmebedingungen in der Gemeinde darzustellen.
Am Dorfeingang fragen wir drei Einwohner*innen nach dem Weg zu den Aufnahmezentren und im Gegenzug wird an uns die Frage gerichtet, warum wir hier seien. Eine der Fragenden ist eine junge Frau, die als Apothekerin für eines der Zentren zuständig ist. Sie betont sogleich, dass sie das als Freiwillige tue. Sie ist die Schwester des Bürgermeisters, des Verantwortlichen für die Empfangszentren, die hier von den Gemeindebehörden selbst betrieben werden. Sie ergänzt, dass wir, falls wir in das größte Zentrum gingen, auch ihren Vater kennenlernen würden, der Arzt sei und als Freiwilliger dort die meiste Zeit des Tages verbringe. Ihr Bruder, eben der Bürgermeister, sei jedoch im Dorfunterwegs. Er sei leicht auszumachen wegen seines Autos, dessen Marke und Modell sie uns angibt.
Auf dem Weg zur Einrichtung für die Minderjährigen kommen wir am dreistöckigen Haus der Erwachsenen vorbei. Wir begegnen zweien der Bewohner*innen vor dem Haus und erfahren, dass in den 6 Wohnungen 25 Personen, darunter drei Familien mit drei Kindern, leben.
Vor den beiden Zentren für die Minderjährigen erkennen wir sogleich das geparkte Auto des Bürgermeisters dank der Beschreibung seiner Schwester. Wir sehen ihn im Kreise einiger seiner Mitarbeiter*innen. Während unseres ganzen Aufenthalts sind vor dem Eingangstor viele der Jugendlichen versammelt. Leider haben wir keine Möglichkeit, uns mit ihnen zu unterhalten.
Tatsächlich wird uns die Stellung des Bürgermeisters sofort klar: in „seinen Zentren“ haben humanitäre Organisationen keinen Platz, auch die von der Regierung akkreditierten nicht, denn sie seien „Unruhestifter“. Einmal, nach einem Besuch der Organisation zum Schutz von Minderjährigen, die vom Ministerium akkreditiert ist, sei eine große Protestaktion von Seiten der Jugendlichen ausgebrochen.
So habe er in der Folge Maßnahmen ergreifen müssen, dass so etwas nicht noch einmal vorkomme. Denn als Bürgermeister sei er für die öffentliche Sicherheit und Ordnung verantwortlich. Er habe die Präfektur von seiner Entscheidung unterrichtet, die solange gelte, bis nicht eine Aussprache mit den Vertreter*innen der akkreditierten Organisationen stattgefunden habe. Er gibt aber zu, dass er selber an einer bereits stattgefundenen Begegnung nicht teilgenommen habe. Wiederholt bekräftigt er, dass eine Besuchsbewilligung in den Zentren allein von seiner Entscheidung abhinge.
Wir versuchen also zu verstehen, was die Jugendlichen dazu veranlasst hat, zu protestieren und wir argumentieren, dass, falls diese Begegnung den Jugendlichen Ihre Rechte bewusstgemacht habe und so eine große Protestaktion daraus geworden sei, das wohl seine Gründe haben müsse. Aber der Bürgermeister, Verantwortlicher und Betreiber der Zentren, führt den Protest auf das Verhalten der Vertreter der Organisationen während ihres Besuches zurück und nicht auf tatsächliche Probleme. Denn die Jugendlichen beklagten sich bei Externen ständig über das selbe: zu wenig Kleider und Mahlzeiten, die ihnen nicht schmecken.
Wir teilen mit, dass wir von der Schwester des Bürgermeisters erfahren haben, dass eine humanitäre Organisation aus Letojanni der Gemeinde Kleider für die Bewohner*innen der Aufnahmezentren spendet. Ob der Bürgermeister dies bestätigen könne? Er erklärt, dass dies aber nur ein kleiner Teil sei, denn die Jugendlichen wollten keine gebrauchten Kleidungsstücke. Er fügt an, dass sie bei der Diskussion über die Kleiderverteilung anhand der von den Jugendlichen unterschriebenen Quittungen habe beweisen können, dass die gekauften Kleider verteilt worden seien.
Der Bürgermeister bestreitet das von den Organisationen erwähnte Problem der abgelegenen Lage der Zentren. Sie seien alle im Zentrum des Dorfes. Wir bringen darum auch die Entfernung von Fondachelli -Fantina zu den umliegenden Dörfern ins Gespräch. Dazu meint er: “E il mondo che è fuori dal mondo” – „Es ist die Welt, die nicht von dieser Welt ist…“ und dass dafür in einem kleinen Ort keine Gleichgültigkeit herrsche, wie in den großen Städten. Dann bringt er auch kulturanthropologische Argumente – die Jugendlichen kämen aus ebenso kleinen Dörfern wie Fondachelli -Fantina.
Trotz allem, auch wenn er den humanitären Organisationen kein Vertrauen entgegenbringt, gibt uns der Bürgermeister bereitwillig Auskunft, was die Organisation der Aufnahmezentren betrifft. Er erklärt uns zuerst, dass für alle Zentren die Gemeindebehörde von Fondachelli-Fantina verantwortlich sei. Eine Behörde von hybridem Charakter, halb staatlich, halb privat, die alles organisiert, was die Aufnahmezentren betrifft: von den Ausschreibungen zu den Dienstleistungen für den Betrieb bis zur Einstellung von Personal, das ausschließlich aufgrund von öffentlich publizierten Inseraten gesucht und ausgewählt wird.
Es ist ihm sehr wichtig zu betonen, dass seine beiden Zentren für Minderjährige von der Provinz Messina akkreditierte Einrichtungen sind, die nach der Disziplinarverordnung (D.P.600/2014) seit August 2015 operieren, und das im Gegensatz zu anderen Institutionen, die ebenfalls Jugendliche aufnehmen. Die Akkreditierung und die Vereinbarungen wurden an diesem Datum in Kraft gesetzt. Tatsächlich wurden aber die ersten 40 Plätze für Minderjährige bereits 2014 bezogen, mit einer bis Ende Dezember desselben Jahres gültigen Vereinbarung.
Was der Bürgermeister darlegt in Bezug auf die Einrichtung von Aufnahmestrukturen für Minderjährige innerhalb von bereits bestehenden sozialen Organisationen verschiedener Ausrichtungen können wir bestätigen. Es ist aber wichtig, zurückzuverfolgen, wie die Gemeindebehörde die Bestimmungen über die Unterbringung von Minderjährigen angewendet hat durch deren Unterbringung in Einrichtungen für Behinderte und in Altersheimen.
Tatsache ist, dass wenige Wochen vor der Ankunft der Jugendlichen, die Bewohner*innen dieser Einrichtungen in eine andere Unterkunft verlegt wurden, einem ehemaligen touristisch betriebenen Bauernhof weit weg vom Dorf. Im September wurde die Einrichtung durch die Carabinieri von Fondachelli-Fantina und die Abteilung der Gesundheitspolizei der Carabinieri von Catania untersucht. Daraufhin wurden die Häuser geräumt und die Bewohner*innen in eine geeignetere Einrichtung verlegt. Zudem wurde gegen zwei Betreiber der gemeindeeigenen Institution Anklage erhoben wegen Nichterfüllung ihrer Aufgaben gegenüber Menschen mit besonderen Bedürfnissen und besonders Schutzbedürftigen.
Wir fragen den Bürgermeister auch danach, wie die Zuteilung der Jugendlichen stattfindet. Er erklärt uns, dass er bei einer Anlandung durch die Präfektur kontaktiert werde. Falls er freie Plätze habe, schicke er den gemeindeeigenen Kleinbus um die neuen Gäste zu holen. Seit ein paar Monaten kämen nur noch bereits identifizierte Jugendliche, während vorher die meisten ohne Papiere kamen und das Verfahren für die Identifizierung jeweils drei Monate in Anspruch nahm. Damit bestätigt sich die Tatsache wieder, dass die Jugendlichen monatelang in der Zeltstadt von Pala Nebiolo in Messina verbringen, bevor sie in ein Aufnahmezentrum transferiert werden.
Andererseits wird uns auch der umgekehrte Weg bestätigt, den wir bereits in anderen Situationen feststellen konnten, beim Nachzeichnen der verschiedenen Stationen bei der Aufnahme von Minderjährigen. Erst vor kurzem volljährig geworden, wechseln sie aus Erstaufnahmezentren für Minderjährige in andere Erstaufnahmezentren im Raum Messina. Nur die wenigsten von ihnen werden in ein SPRAR*, in Einrichtungen und Projekte für Asylsuchende und Flüchtlinge verlegt.
Wir fragen den Bürgermeister nach den Wartezeiten während der bürokratischen Prozeduren. Für die Öffnung des Verfahrens zur Erlangung des Schutzstatus seien es bis zu drei Monate, darauf folgen 2 Monate für die Formalisierung von Seiten der Behörden, während die Wartezeit bis zur Anhörung vor der Kommission bis zu 7 Monaten betragen könne.
Was den Antrag für den Schutzstatus der Minderjährigen beträgt, zeigt sich der Bürgermeister sehr beflissen – er habe bereits zweimal gerichtliche Schritte unternommen, damit die Prozesse beschleunigt würden. Es ist offensichtlich, dass solche Verstöße und bürokratischen Verzögerungen gravierende Folgen haben für die jugendlichen Asylsuchenden. Sie erhalten nicht den Schutz, der ihnen von Rechts wegen zustehen würde. So erreichen die meisten bereits während dieser zu lange dauernden bürokratischen Abläufe die Volljährigkeit.
Was die Beschäftigten in diesem Zentrum betrifft, hält der Bürgermeister fest, dass die Qualifikation der Mitarbeiter*innen den gesetzlichen Bestimmungen entsprechen. Darum weicht die Zusammensetzung des Teams des ersten Zentrums leicht von der des zweiten ab. Aber in beiden arbeiten ein Leiter des Zentrums, die Erzieher, die Sprach- und Kulturmediator*innen, der Psychologe und ein*e Italienischlehrer*in.
Für die juristische Begleitung sind vier Anwält*innen zuständig, alle mit einer Spezialausbildung in Immigrationsrecht. Aus den Erläuterungen entnehmen wir, dass die Anwälte bei der Ankunft für die juristischen Informationen zuständig sind und nach dem Erhalt des Entscheides der regionalen Kommission im Falle einer Ablehnung des Gesuches. Für die Vorbereitung auf die Anhörung scheint keine spezielle Betreuung vorgesehen.
Was die Gesundheitsversorgung betrifft, klagt der Bürgermeister über die fehlende Bereitschaft der öffentlichen Gesundheitsbehörde. Er berichtet, dass er und sein Sohn als Ärzte die Jugendlichen behandeln, aber dass sie keine spezialisierten Untersuchungen durchführen können. Viele der Jugendlichen seien noch nicht beim öffentlichen nationalen Gesundheitsdienst SSN registriert, denn die Sozialbehörde von Barcellona Pozzo di Gotto eröffne nur drei Dossiers pro Woche für vorübergehend im Land anwesende Ausländer. So bleibt nichts anderes, als bei den meisten gesundheitlichen Problemen den Notfallarzt in Anspruch zu nehmen. Auch dieser kann keine spezialisierten Behandlungen durchführen. Darum muss man in vielen Fällen noch einmal nach Barcellona di Pozzo di Gotto zur Gesundheitsbehörde, um ein zweites Mal zurückzukehren für Untersuchungen oder die Behandlung eines Spezialarztes.
Was die Mahlzeiten betreffe, werden diese von der Gemeindeküche geliefert.
Pocket Money werde aus pädagogischen Gründen nicht ausbezahlt. Das Taschengeld habe zu verschiedenen Problemen geführt und Streit verursacht. Es werde nun als Lohn für freiwillige Arbeiten in der Gemeinde (z. B. für die Schule) in der Reinigung und im Garten ausbezahlt – 5 Euro für 3 Stunden Volontariat.
Wir wissen nicht, wie viele von ihnen an diesen Arbeiten teilnehmen können und wir wissen auch nicht, ob diese Einsätze die eigentlichen bezahlten Angestellten nur unterstützen oder sie ersetzen.
Bevor er uns verabschiedet, will der Bürgermeister uns noch über sein Projekt der permanenten Weiterbildung berichten, an dem alle ausgebildeten sowie unausgebildeten Mitarbeiter*innen der Zentren teilnehmen und er erzählt viel Interessantes. Wir haben bei dieser Gelegenheit dem direkt Betroffenen jedoch das Gleiche geantwortet, was wir nun auch hier schreiben wollen. Wir betonen unser Befremden gegenüber der Verweigerung der Zusammenarbeit mit humanitären Organisationen. Dazu kommt die Tatsache, dass wir Fondachelli-Fantina verlassen müssen, ohne ein Wort mit den Jugendlichen selbst gesprochen zu haben. Diese beiden Faktoren erscheinen uns dermaßen schwerwiegend, dass sie der Erleichterung keinen Platz lassen, die uns die vielleicht tatsächlich guten Ansätze in diesem Zentrum bringen könnte, denn wir konnten uns nicht selbst davon überzeugen.
Giovanna Vaccaro
Borderline Sicilia
*SPRAR – Sistema di protezione per richiedenti asilo e rifugiati: Schutzsystem für Asylsuchende und Flüchtlinge
* ASP – agenzia di servizi alla persona: Sozialbehörde
* STP – Straniero temporaneamente presente: Assistenza Stranieri Non Comunitari – Gesundheitsversorgung von Nichtitalienern
* Codice STP: Verordnung über die Gesundheitsversorgung der vorübergehend im Land anwesenden Ausländer
Übersetzung aus dem Italienischen von Susanne Privitera Tassé Tagne