Palermo, das Spiel mit der Zukunft der unbegleiteten Minderjährigen
Das Telefon läutet zum x-ten Male und wieder ist es Ben*, ein Jugendlicher von 16 Jahren, der darauf besteht, mich so schnell wie möglich zu sprechen. Ich entschließe mich, ihn zu treffen, auch wenn ich keine Gelegenheit habe, mich mit der Organisation in Verbindung zu setzen, die das Zentrum führt, in dem er untergebracht ist. Da es unterschiedliche Einrichtungen gibt, die unbegleitete Minderjährige aufnehmen, ist es schwierig direkt mit den Verantwortlichen zu sprechen.
Wir treffen Ben im wunderschönen kleinen Hafen von Porticello bei Palermo unter strahlendem Sonnenschein und an einem glänzenden Meer. Überrascht sehen wir, dass er in Begleitung von 7 Kameraden gekommen ist, die uns schüchtern die Hand zur Begrüßung geben und lächeln.
Ahmed, ein Jugendlicher aus dem Senegal erzählt, dass er seit 6 Monaten in Italien sei, dass er aber keine Papiere besitze und nicht verstehe, warum nichts in die Wege geleitet werde, um seine Identifizierung zu beglaubigen. Er braucht persönliche Dokumente, wie alle. Er will neue Hoffnung schöpfen, Hoffnung, die er in den vier Monaten in Libyen verloren hat. Er und seine Kameraden wurde wiederholt geschlagen. Sie schliefen mit den Schuhen an den Füßen um jederzeit fliehen zu können vor den Folterknechten, die nächtliche Razzien durchführten in den Hubs am Strand, wo sie auf die Überfahrt nach Europa warteten. Sie hatten nur eine Mahlzeit am Tag und viele Jungen und Mädchen irren dort auf den Straßen herum.
„Am Abend haben wir uns durchgezählt, um festzustellen, wer nicht mehr da war und ob neue Kameraden zu uns gestoßen waren. Manche kamen am nächsten Morgen wieder und viele habe ich nie mehr gesehen. Ich konnte nicht in Libyen bleiben, es war ein Albtraum.“ Ahmed ist wirklich jung. Er sieht nicht wie ein Siebzehnjähriger aus, aber bei seiner Ankunft in Palermo haben sie ihn als Siebzehnjährigen eingestuft. Er hatte noch keine Gelegenheit sein Geburtsjahr zu berichtigen. Die Sozialarbeiter*innen seines Zentrums vertrösten ihn: „Später, später….“. „Aber wann später?“ – führt er fort.
Die Organisation, die die Einrichtung für Jugendliche unterhält, in der Ahmed und Ben untergebracht sind, ist die Azzurra nuova cooperativa sociale, die seit letztem Jahr auch in der Erstaufnahme von Minderjährigen tätig ist, nach jahrelanger Erfahrung in der Betreuung von Menschen mit Behinderung.
Diese Kooperative hat ihren Dienst am 28. Dezember 2015 in Porticello und Petralia aufgenommen, ohne Auftragsakkreditierung des Innenministeriums. Zu jenem Zeitpunkt hatte die Gemeinde Palermo keine Kapazitäten mehr zur Unterbringung von so vielen Jugendlichen in den vorhandenen Strukturen. Aus diesem fragwürdigen Grund wurden der obgenannten Kooperative 80 Jugendliche anvertraut, die in den bereits bestehenden Strukturen dieser Kooperative untergebracht wurden. Wie wir erfahren, sind die Probleme innerhalb dieser außerordentlichen Aufnahmezentren auf den Mangel an Erfahrung, den Mangel an ausgebildetem Personal und auf logistische Probleme zurückzuführen. In Petralia haben jungen Bewohner*innen verschiedentlich protestiert und sind weggelaufen. Obwohl 11 von den 25 geblieben sind, wurde das Zentrum geschlossen, denn die Gehälter waren nicht ausbezahlt worden. Laut dem Bericht eines ehemaligen Angestellten, hätten sie sogar aus eigener Tasche zur Finanzierung des Betriebes beigetragen!
Die übrig gebliebenen Gäste dieser misslungenen Aufnahme wurden ins zweite Zentrum der Kooperative nach Porticello gebracht … und die Moral von der Geschicht: die Behörden, welche ein Zentrum wegen Nichtfunktionierens schließen, übergeben die 11 Jugendlichen wieder der gleichen Institution! Dafür verantwortlich ist die Gemeinde Palermo, die nach einem menschenwürdigen Empfang im Hafen „vergisst“, sich weiter um die Menschen zu kümmern. Für die Minderjährigen ist die Situation noch schlimmer. In der ganzen Provinz hat es keine Plätze mehr für sie. Darum werden immer wieder die Caritas und andere Institutionen angefragt, um sie notfallmäßig aufzunehmen. Alle Institutionen werden in der Folge von den Regierungsorganen im Stich gelassen und haben seit 9 Monaten keine staatlichen Beiträge für die Minderjährigen mehr erhalten. Gestern haben die Vertreter*innen der humanitären Gemeinschaften vor dem Sitz der Stadtbehörde von Palermo protestiert und verlangt, dass die Mittel, die das Innenministerium für sie überweist, ausbezahlt werden. Sie verlangen sofort den Betrag für einen Monat, sonst würden sie die Zentren schließen und 800 Minderjährige stünden auf der Straße.
Aus diesem Grund hatte die Kooperative Azzurra wahrscheinlich nicht die nötigen Mittel, ihre Aufgaben zu erfüllen, wie uns die Jugendlichen berichten: nicht genügend Kleider, kein warmes Wasser, kein Trinkwasser, oft ungenießbares Essen und nur 4 Stunden Italienischunterricht pro Woche. Was ihnen aber am meisten Sorgen macht und was sie nicht begreifen, ist die nie erfolgte Aufklärung über ihre rechtliche Situation und dass sie ihre Tutor*innen noch nie kennengelernt haben.
Der Mangel an Betreuung kann Kurzschlusshandlungen auslösen, deren Preis die Jungen selber bezahlen. Was die Klagen und Anschuldigungen der jugendlichen Bewohner*innen betrifft, müssen wir diese zusammen mit der Kooperative überprüfen. Tatsache ist, dass viele Vorkommnisse auf eine schlechte Kommunikation, oder noch bedenklicher, auf eine schlechte Betriebsführung schließen lassen. Denis, der uns vor allen andern begrüsst hatte, bittet mich: „Verlass uns Du nicht auch noch. Tue etwas, unsere Situation ist schrecklich. Wir schlafen zwar nicht mit den Schuhen an den Füßen, aber wir sehen auch hier keine Zukunft für uns.“
Wir werden versuchen, den Erwartungen der Jugendlichen gerecht zu werden. Bereits informiert haben wir Save the Children, die Gemeinde von Santa Flavia und die Präfektur in Palermo, damit sie die nötigen Untersuchungen durchführen – denn mit der Zukunft junger Menschen soll nicht gespielt werden!
Alberto Biondo
Borderline Sicilia
*alle Namen sind geändert
Übersetzung aus dem Italienischen von Susanne Privitera Tassé Tagne