Viele kommen, wenig Hilfe. Migrant*innen sind unter immer schlimmeren Bedingungen auf sich selbst gestellt
4.500 Menschen wurden innerhalb weniger Stunden gerettet und in die großen sizilianischen Häfen gebracht: Pozzallo, Augusta, Catania, Messina, Porto Empedocle und Palermo. Die Ankunft einer großen Zahl von Migrant*nnen geht paradoxerweise mit einer größeren Unsichtbarkeit der Geflüchteten und geringerer Fürsorge einher. Kommt es zu mehreren Landungen an einem Tag, geschieht es häufig, dass die Mitarbeiter*innen der Nichtregierungsorganisationen sich auf die verschiedenen Häfen aufteilen müssen, damit niemand übersehen wird.
Bevor wir uns allerdings mit der Möglichkeit zuverlässiger, angemessener Hilfe für Migrant*innen auseinandersetzen, ist es notwendig, auf die offensichtlich strukturellen Probleme dieser Organisationen hinzuweisen. Die Unfähigkeit eine in Absprache mit den staatlichen Stellen übernommene Aufgabe zu erfüllen, kann unseres Erachtens nur mit einem verringerten Personalbestand erklärt werden. Wir fragen uns, warum nach Jahren die Spitzen von UNHCR, IOM und Save the Children, um nur einige zu nennen, ohne sich mit den notwendigen personellen Ressourcen ausgestattet zu haben, erneut ihre Bereitschaft erklären, auf dem Gebiet tätig zu sein und sich angemessen um die Menschen bei uns kümmern zu können. Dies zeigt erneut, dass ein solcher Umgang mit dem Migrationsphänomen scheitern wird, und in welchem Maß die eingesetzten Kräfte zu Projekten führen, die weit davon entfernt sind, Migrant*nnen zu helfen.
Womit niemals Zeit verloren wird, sind die Ermittlungen und Fahndungen nach „mutmaßlichen Schlepper*nnen“ auf den verschiedenen Booten. Sie machen den Eindruck einer, im Moment der Ankunft startenden, verzweifelten Menschenjagd. Als ob es genaue Vorgaben und präzises Timing einzuhalten gälte – da kommt der Gedanke, dass genau dies der Fall sei. Gestern kamen im Hafen von Pozzallo 490 Menschen an, die in ziemlich ungeordneter Weise von Bord gebracht wurden. Das hatte zur Folge, dass ein oder zwei Stunden nach dem Beginn der Ausschiffung einige Kinder, Frauen und Männer Stürze erlitten, und nicht etwa, wie es logisch gewesen wäre, die Ersten, die von Bord gingen. Vor allem aber hörten wir gestern, nachdem vier mutmaßliche Schlepper*innen in einem Polizeiwagen weggebracht worden waren, wie schon früher den Kommentar: „Wir haben vier festgenommen, jetzt ist alles in Ordnung.“ Dann bemerkten wir, wie die Anspannung bei den Kontrollen und Durchsuchungen wich. Diese wurden im Übrigen ausschließlich von männlichen Angestellten und flächendeckend unter Einsatz vieler Metalldetektoren durchgeführt.
Unter den angekommenen Migrant*innen waren viele, teils sehr junge Frauen überwiegend aus Nigeria. Mit ihnen zusammen kamen viele andere Minderjährige, davon mindestens 16 als unbegleitet registriert, sowie 393 erwachsene Männer. Es handelt sich bei ihnen um Menschen aus Bangladesch, Somalia, der Elfenbeinküste, Senegal und anderen, subsaharischen, afrikanischen Ländern. Alle waren in Libyen aufgebrochen und wurden im Verlauf von fünf verschiedenen Einsätzen gerettet und vom Schiff Driade an Bord genommen. Eine*r der Helfer*nnen sagt, dass die Bedingungen, in denen die Menschen sich bei der Rettungsaktion befanden, bereits sehr prekär und aus gesundheitlicher Sicht kritisch waren: Wer heute ankommt, trägt Zeichen von immer deutlicherem Leid an sich, doch scheint deshalb keine sorgfältigere Behandlung zu erhalten. Auf dem Kai waren Mitarbeiter*innen des Roten Kreuzes, des IOM, Emergency, Medu und Terres des Hommes, die so gut wie möglich versuchten, eine Erstversorgung zur Verfügung zu stellen – und das in den wenigen Minuten, die die Migrant*innen auf dem Kai verbrachten, während die Polizei Kontrollen durchführte und erkennungsdienstliche Fotos anfertigte. EIn eng begrenzter, fast inexistenter Raum dehnt sich plötzlich um wer weiß was aus – und dann werden alle in den Hotspot gebracht, in dem sich bereits gut 150 Migrant*innen befinden.
Wie kann Hilfe und angemessener Schutz für mögliche Opfer von Menschenhandel und besonders Hilfsbedürftige gewährleistet werden? Und das bei Ermittlungen von Polizei und Frontex, an einem überfüllten Ort unter Bedingungen höchsten Stresses. Wie können Familien zusammengehalten werden? Wie können unbegleitete Minderjährige geschützt werden? Wie können die besonderen Bedürfnisse der Schwächsten ermittelt werden? Die Möglichkeiten dazu erscheinen uns äußerst begrenzt. Das stellen wir häufig im Gespräch mit denen fest, die es schaffen, aus dem Hotspot raus zu kommen. Erinnern wir uns daran, dass es unter den Migrant*innen, die bereits gestern in der Einrichtung waren, ja noch rund hundert unbegleitete Minderjährige gibt! Kinder, die gezwungen werden, in einem Hotspot auszuharren, verletzlich und unter lauter Erwachsenen. Auch wenn die Rede von Hunderten von Verlegungen in diesen Tagen ist, wissen wir, dass dies die neu Angekommenen betrifft und mit ziemlicher Sicherheit nicht die Minderjährigen, die immer noch allen Gesetzen und Konventionen zum Trotz in einem Hangar gefangen sind.
Die Situation ist nicht besser im Hafen von Augusta, wo gestern an Bord des Schiffes Diciotti 1.148 Menschen ankamen: Migrant*innen aus verschiedenen Ländern, darunter Afghanistan, Syrien, Irak, Bangladesch, vom Horn von Afrika und aus Ländern südlich der Sahara. Vor allem aber kamen mehr als hundert unbegleitete Minderjährige, die jetzt gezwungen sind, auf unbestimmte Zeit hin in der im Hafen errichteten Zeltstadt zu bleiben. Die Bedingungen innerhalb der Zeltanlage sind kurz gesagt unmenschlich: Nach der Schließung des Zentrums Umberto I in Syrakus dienen nun seit über einem Monat zwei 200-Personen-Zelte, eines davon baulich ungeeignet, Hunderten von geflüchteten Menschen als Erstaufnahmezentrum. Hier leben für Wochen hunderte Menschen, darunter eben auch unbegleitete Minderjährige, zusammengepfercht in Zelten, in denen die Temperaturen im Laufe des Tages immens ansteigen. In der Nacht gibt es anscheinend keinerlei medizinische Versorgung und auch tagsüber sind die meisten Geflüchteten völlig sich selbst überlassen.
Die Ankunft gestern, der noch eine von etwa fünfzig Migrant*innen am Morgen voran gegangen war, die eigenständig auf einem kleinen Boot an der Küste von Vendicari angekommen waren, erhöht noch die Zahl der Menschen, die zum aussichtslosen Warten gezwungen sind. Sie verringert die Möglichkeiten, sich um die einzelnen anwesenden Menschen zu kümmern – in einem Land, in dem die Achtung der Grundrechte inzwischen eine Sache von Glück und Zufall ist. Dieses neue, „außer Kontrolle“ stehende Lager nimmt langsam Formen an und läuft dabei Gefahr, zu einem Gefängnis unter freiem Himmel zu werden. Viele möchten von hier fliehen, doch am Ende landen sie in den Händen anderer skrupelloser Ausbeuter*nnen. Wie für die jungen Menschen im Hotspot von Pozzallo entwickelt sich auch für diese Minderjährigen die erste Landung in Sizilien zwangsläufig zu einem weiteren, vorübergehenden Aufenthalt auf der gefährlichen Reise auf der Suche nach einem Ort, wo ihre Rechte geachtet werden und wo sie Schutz finden, Menschlichkeit und Fürsorge, die sie in den Hotspots und Zeltstädten nie finden werden.
Lucia Borghi
Borderline Sicilia Onlus
Übersetzung aus dem Italienischen von Johannes Majoros-Danowski