Migrant*innen – sie haben einen Namen, die „Desaparecidos des Mittelmeers“
Quelle: Redattoresociale.it
„Mediterranean Missing“ heißt das gemeinsame Projekt der Universität von York, der City Universität von London und der IOM, der Internationalen Organisation für Migration. „Meditterranean Missing“ erforscht die erprobten Methoden und Problemen bei der Identifikation der Toten und Vermissten im Mittelmeer. Seit Beginn dieses Jahres sind es schon 3600. „Eine weitgehend unsichtbare und von der Öffentlichkeit nicht wahrgenommene humanitäre Katastrophe“.
Ph. Redattore Sociale
Es ist ein lautloses Massaker, dem seit Beginn des Jahres 2015 bis heute 6600 Menschen zum Opfer gefallen sind.
Frauen, Männer und Kinder auf der Suche nach einer besseren Zukunft in Europa haben ihr Leben im Mittelmeer verloren, sie sind die „Desaparecidos del mediterraneo“, die „Verschwundenen des Mittelmeer“. Ihre Leichname wurden in namenlosen Gräbern auf den Friedhöfen Süditaliens beigesetzt. Ihre Familien auf der anderen Seite des Mittelmeeres wissen nicht, ob sie um einen oder eine Tote weinen sollen oder auf seine oder ihre Rückkehr hoffen dürfen.
Aber wie geschieht die Identifizierung dieser Toten? Wer beschäftigt sich damit und wie?
Das ist die Aufgabe, die sich Mediterranean Missing gestellt hat: Was sind die humanitären Aufgaben und die Pflichten der europäischen Staatengemeinschaft, was die Vermissten und verstorbenen Migrant*innen an der Grenze der Europäischen Union betrifft? Das Zentrum für angewandte Studien der Menschenrechte der Universität von York, die City Universität von London und die IOM, die Internationale Organisation für Migration, haben sich dafür im Projekt Mediterranean Missing zusammengetan. Dieses heute im Parlament vorgestellte Forschungsprojekt konzentriert sich vor allem auf die Art und Weise im Umgang mit den Leichnamen,auf die die gesetzlichen Bestimmungen dazu und auf die Methoden die, deren Identifikation sicherstellen. Der Bericht von Mediterranean Missing basiert auf 27 semistrukturierten Interviews mit den Zuständigen der lokalen und nationalen Behörden und mit humanitären Organisationen der Zivilgesellschaft.
Eine unsichtbare humanitäre Katastrophe. Simon Robbins, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität von York, erklärt: „Das Projekt ist entstanden zuallererst um den Opfer der Massaker, die sich täglich auf dem Meer abspielen, ihre Würde zurückzugeben. Es sterben tausende von Migrant*innen an den Südgrenzen des Mittelmeers, 6600 Tote seit 2015, das ist Rekord. Das ist wirklich eine echte unsichtbare und humanitäre Katastrophe, unterstreicht er.
Das Verschwinden des Flugzeugs der Maleysian Airlines hat ein enormes Echo in den Medien gefunden. Wenn hingegen Massen von Migrant*innen ertrinken und verschwinden, mehr als die Insassen von 5 Jumbo Jets zusammen, dann ist das weder für die Presse noch für die Politiker ein Thema. Die Staaten der Europäischen Union nehmen die Aufgabe der Identifikation der Toten nicht ernst. Wir hingegen wollen analysieren und hervorheben wo es Verbessrungsmöglichkeiten gibt und welches die besten Vorgehensweisen sind“
Nur Nummern auf den Gräbern in Sizilien. Für das Projekt zuständig ist eine junge italienische Forscherin, Giorgia Mirto: „Auf den Friedhöfen auf Sizilien sieht man Gräber mit einer Nummer, aber ohne Namen“, stellt sie fest. „Diese Nummern „entmenschlichen“ die Grabstätte und wir werden durch diese namenlosen Gräber nicht an den Verstorbenen erinnert, nicht daran erinnert, dass Angehörige um diesen Menschen weinen, dass sie nicht wissen, ob sie auf seine Rückkehr hoffen dürfen. Die Migrant*innen, die fortwährend vergessen sterben, sind Teil einer Generation, die ein Recht hätte hier zu leben und in unser Land zu kommen, ohne das Leben zu riskieren.“Das Projekt konzentriert sich vor allem auf die in Sizilien etablierten Prozedere zur Identifikation der Leichname. Wie die Wissenschaftler unterstreichen war die Katastrophe vom 3. Oktober 2013 vor Lampedusa, wo 387 Menschen ihr Leben verloren haben, ein wichtiger Wendepunkt. Dieses Massensterben (welches sich in einigen Tagen das dritte Mal jährt) hat eine Änderung in der Öffentlichkeitswahrnehmung herbeigeführt. Es wurde darüber berichtet und erste Lösungsansätze für die Würdigung der Toten sind entstanden.
Angelo, ein Inspektor der Polizei sucht die Familien von Vermissten auf Facebook.
„Die letzten drei Jahre haben sich viele mit diesem Thema befasst, darunter Staatsangestellte, Ärzt*innen bis hin zu Polizeibeamt*innen. Einer von ihnen ist Angelo Milazzo, der in den letzten Jahren in seinem Büro im Polizeipräsidium keine Mühe scheut, um die Namen und Herkunft der Vermissten herauszufinden“ berichtet Mirto. „Dazu hat er auch eine Facebookseite mit Hilfe der syrischen Gemeinde eingerichtet, auf welcher er versucht, die Familien der Vermissten zu kontaktieren . Mit dieser persönlichen Initiative hat er 22 von 24 Toten identifizieren können.“
Was können wir tun? Unter den erprobten Praktiken hebt das Projekt „Missing Migrant“ die zentrale Rolle des Büros für Vermisste unter der Leitung des außerordentlichen Kommissars Vittorio Piscitelli hervor. Es untersucht die drei Schiffskatastrophen vom 3. und 11.Oktober 2013 und vom 18. April 2015.
Dazu hat das Büro zahllose Berichte veröffentlicht, in denen auch Leitlinien zur Bewältigung solcher Ereignisse vorgeschlagen wurden.
Diese Dokumente haben es allem voran erlaubt, die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Beteiligten an der Identifizierung der Toten in Gang zu bringen. Aus diesem Grund sollte die Arbeit dieses Büros auf andere Fälle ausgedehnt werden. Aber vor allem sollte daraus eine Koordinationseinrichtung werden, um gemeinsame Richtlinien und Standards für ganz Italien festzulegen. Der andere heikle Punkt, der im Rapport erwähnt wird, ist die zentrale Rolle der Angehörigen der Vermissten. Nicht nur, weil sie die Hauptbetroffenen sind in diesen Tragödien, sondern auch weil die Angehörigen die Arbeit der Experten durch den Vergleich der Daten erleichtern können. Heute hingegen stehen wenige Daten aus dem Leben der Vermissten von Verwandten zur Verfügung. Genauer gesagt kritisieren die Forscher die polizeilichen Ermittlungen.
Nach einer Havarie werden die Überlebenden tatsächlich vor allem befragt um Schlepper zu bestrafen während es wenig gesammelte Informationen gibt, die nachvollziehen lassen, wer auf dem Schiff war, woher sie kamen, ob sie Familienangehörige an Bord hatten oder alleine reisten.
Es bräuchte eine länderübergreifendes Vorgehen um die Daten der vermissten Migrant*innen zu bearbeiten, gemeinsame Datenbanken der europäischen Staaten, um der Namenlosigkeit der zu vielen Toten im Mittelmeer ein Ende zu setzen.
Eleonora Camilli
Übersetzung aus dem Italienischen von Susanne Privitera Tassé Tagne