Erzwungener Halt: die Zeit in Agrigento vergeht nicht
Wir haben einen Tag mit den Migrant*innen verbracht, die sich im Villaggio Mosè in Agrigento befinden, und dabei Jugendliche und Betreiber der Einrichtung getroffen. Wir sind Dynamiken und Praktiken begegnet, die uns wohl bekannt sind, weil das System sie gefestigt und in vielen Fällen derart gestaltet hat, dass sie einem menschenwürdigen Leben nicht angemessen sind. Unser Besuch nimmt seinen Anfang im außerordentlichen Aufnahmezentrum (CAS) La mano di Francesco, das sich auf der Viale Cannatello befindet, der Straße, die von Villaggio Mosè zum Strand führt. Also in einer Gegend, in der, abgesehen von ein paar Geschäften und einem Supermarkt, gar nichts ist.
Es wurde 2014 eröffnet und war ursprünglich für 60 Personen zugelassen, dennoch schloss die lokale Behörde ein Abkommen über 40 Personen. Dieselbe Organisation eröffnete zur gleichen Zeit noch zwei andere außerordentliche Aufnahmezentren (CAS) in Naro und Palma di Montechiaro, die sie aber 2015 aus strukturellen Gründen und nach Protesten der Bewohner*innen schließen mussten.
Im Moment verwaltet dieselbe Organisation ein Erstaufnahmezentrum für Minderjährige, ebenfalls in Villaggio Mosè.
Das Paradoxe an diesem Zentrum ist, dass die Bewohner*innen seit September 2014, also seit der Eröffnung, dort „geparkt“ sind. Tatsächlich sind heute von den 40 Anwesenden gute 15 Bengal*innen, die am Tag der Eröffnung der Einrichtung angekommen sind. Sie haben alle 2015 einen Antrag bei der Asylkommission eingelegt und warten nun auf ihren Anhörungstermin, der für Sommer 2017 festgelegt ist.
Zehn andere afrikanische Asylsuchende haben zwischen 2015 und 2016 lediglich das Formular C3 zur Asylantragstellung ausgefüllt und warten auf ihre Anhörung vor der Kommission.
Das Besondere an diesem Zentrum ist, dass sich dort nicht nur Männer befinden (auch wenn das Abkommen nur Männer vorsieht), sondern das Amt dort aus Notfallgründen auch eine pakistanische Familie mit einer kleinen Tochter, eine Frau aus Mali mit einem sehr kleinen Sohn (am 30. August auf Lampedusa geboren) und eine andere Frau mit vierjährigem Sohn untergebracht hat. Außerdem eine junge Nigerianerin, erst seit Kurzem angekommen, die nach einer Blinddarmoperation aus dem Krankenhaus entlassen und an die Sozialarbeiter*innen der IOM* verwiesen wurde. In all dem Chaos gibt es auch noch einen Iraker, der momentan nicht mehr unter subsidiärem Schutz steht, weil die Polizei gegen ihn ermittelt.
Außerdem sind da noch fünf junge Gambier*innen, Zeug*innen mutmaßlicher Schleuser, die sich nach einiger Zeit in Lampedusa nun seit drei Monaten im außerordentlichen Aufnahmezentrum „La mano di Francesco“ aufhalten, jedoch niemals einen Anwalt gesehen oder irgendein bürokratisches Verfahren eingeleitet haben, wie es dem UNHCR* mitgeteilt wurde.
Es besteht also ein großes Vermischungsproblem, auch wenn der Betreiber der Einrichtung angibt, dass alle sehr gut zusammenleben.
Da das lokale Regierungsbüro jedoch mit seinen Zahlungen sieben Monate im Rückstand ist, beginnen sich Probleme bei der Verteilung des Taschengeldes aufzutun (hier sind es zwei Monate Rückstand), etwas, das vorher nie vorkam.
Ein weiterer Kritikpunkt der Migrant*innen betrifft den Mangel an Gesprächen mit Anwalt und Psychologin (nur die Frauen geben an, in der Vergangenheit einmal mit der Psychologin gesprochen zu haben). Es gibt in der Einrichtung nur einen nigerianischen Sprach- und Kulturmittler, der jedoch nur einige Stunden am Tag kommt. Natürlich vergeht auch hier die Zeit nicht. Die Jugendlichen sitzen auf den Stufen und beobachten die Autos, die vorbeifahren, im Winter sind es ganz klar weniger als im Sommer. Einige erledigen kleine Arbeiten in den Supermärkten oder auf dem Land, im Sommer am Strand. Ansonsten ist die Notwendigkeit zu arbeiten groß.
Alfuras hingegen ist das einzige Zentrum für Minderjährige, das „unter der Kontrolle“ des lokalen Regierungsbüros steht, es wird aus Mitteln des FAMI*-Topfes (ein dreijähriges Projekt mit einem Budget von 2.600.000 Euro) finanziert und wurde im März 2015 eröffnet. Verwaltet wird es von der A.GRI.CA-Genossenschaft, zu der die gesundheitlichen Kooperativen Delfino, Giostra von Benevento, Siparia von Gravina di Puglia und San Marco onlus in Palma di Montechiaro gehören. Dies alles sind Vereinigungen, die nicht nur mit unbegleiteten Minderjährigen, sondern auch, wie San Marco, mit Erwachsenen arbeiten.
Auch dieses Zentrum befindet sich auf der Viale Cannatello, in einem gemieteten Gebäude mit drei Stockwerken. Wir haben uns mit einem der Verwalter der Genossenschaft getroffen, der uns mit viel Inbrunst berichtete, wie sehr sie an das Projekt glaubten und wie sehr sie darauf drängten, dass die Staatsanwaltschaft die 90 Tage für die Umsiedlungen einhalte, andernfalls sei ihre Arbeit nicht angemessen.
Tatsächlich sollte Alfuras, wie andere Erstaufnahmezentren für Minderjährige, diese nur für maximal 90 Tage aufnehmen, aber seit vor dem Sommer stagnieren die Umsiedlungen, mit dem Ergebnis, das sich die Minderjährige schon seit sechs oder sieben Monaten in der Einrichtung befinden.
„Wir wollen hier nicht die Bullen spielen, aber wir haben ein Verfahren eingeleitet, um herauszufinden, wer volljährig ist“, sagt uns der Verwalter. „Unser Ziel ist es, ein Erstaufnahmezentren für Minderjährige zu sein, deshalb können Volljährige hier nicht bleiben.“
Eine Problematik besteht darin, dass keine Asylverfahren eingeleitet werden (was eigentlich in den Zweitaufnahmezentren passieren sollte); doch da es keine Umsiedlungen gibt, werden die Jugendlichen in der Zwischenzeit volljährig und verlieren ihren Anspruch auf Schutz, den das Gesetz für sie vorsieht. So riskieren sie, von der Aufnahme ausgeschlossen zu sein und unsichtbar zu werden. Im Zentrum arbeiten Sozialarbeiter*innen und Vermittler*innen, nachts gibt es zwei Wachleute. Ein Anwalt und eine Psychologin sind ständig anwesend, letztere hat sowohl auf die Anwesenheit von Volljährigen, als auch auf Fälle von besonderer Schutzbedürftigkeit hingewiesen.
Ein so langer Aufenthalt führt dazu, dass die Jugendlichen das Gefühl für Zusammenleben verlieren; das ist der Grund, warum es zwischen ihnen immer öfter zu Streit kommt, Streit, den die Sozialarbeiter*innen sehr aufmerksam zu schlichten versuchen, auch wenn es für sie ebenfalls nicht einfach ist, unter Bedingungen zu arbeiten, die sich mit der Zeit geändert haben. „So lange wir in den vorgesehen Zeiten gearbeitet haben, hat alles perfekt funktioniert, aber jetzt gibt es immer mehr Schwierigkeiten, weil sich unsere Arbeit und auch die Bedürfnisse geändert haben.
Aufgrund einer pädagogischen Entscheidung zahlt das Zentrum kein Taschengeld aus, sondern verteilt alle zehn Tage Telefonguthaben.
Am Tag unseres Besuchs konnten wir beobachten, dass die Jugendlichen vormittags mit Italienischunterricht beschäftigt sind, der von den Sozialarbeiter*innen des Zentrums abgehalten wird (auch wenn nicht alle hingehen, weil sie sich beschweren, dass man immer das gleiche und keine Fortschritte mache); nachmittags kann man nur Ball spielen oder auf den Zimmern auf das Abendessen warten.
Viele spielen in Schlappen Fußball, da mit Schuhen zu spielen bedeuten würde sich die einzigen geschlossenen Schuhe zu versauen, die sie besitzen, und dann in Schlappen auf die Straße gehen zu müssen: „Das macht in den Augen der Leute keinen guten Eindruck. Wir wollen uns gern gut kleiden wie alle anderen Jugendlichen in unserem Alter und wir wollen nicht, dass die Leute denken wir seien Höhlenmenschen.“
Alberto Todaro
*IOM: Internationale Organisation für Migration
*UNHCR: UN Hochkommissariat für Flüchtlinge
*FAMI: Fondo asilo migrazione e integrazione, Fonds des it. Innenministeriums für Asyl, Migration und Integration
Übersetzung aus dem Italienischen von Anna Vollmer