Besuche im Zeltlager von Pian del Lago
Im Monat Januar haben wir zwei Mal das Zeltlager in Pian del Lago, bei Caltanissetta, zusammen mit den Mitarbeiter*innen von Oxfam besucht, im Rahmen des Projekts OpenEurope. Die Räumung des Lagers einige Tage vor Weihnachten war in allen Printmedien präsent, hat aber so gut wie keine Auswirkungen auf das Leben der Migrant*innen gehabt: Sie lebten davor auf der Straße und dort sind sie immer noch. Sobald die Nachricht aus der Presse verschwand, haben sich etliche von ihnen einfach wieder unter den Autobahnbrücken eingerichtet, wo sie mit Hilfe von halbkaputten Zelten, Pappkartons und Plastikplanen ihre Behelfsunterkünfte wieder aufgebaut haben. Und hier harren sie aus, einem der kältesten Winter der letzten Jahre trotzend.
Keine öffentliche Institution kümmert sich um sie, es sei denn es geht um ihre Räumung und nur dank der Solidarität der Bewohner*innen des CARA* und der Freiwilligen können sie ohne Wasser, ohne Essen, ohne sanitäre Einrichtungen und ohne Fürsorge überleben.
Das von ihnen aufgebaute Camp erinnert an die vielen anderen Camps, die in Italien und in Europa zu finden sind, wo das Risiko der Konfrontationen zwischen den Bewohner*innen durch die prekären Lebensbedingungen verstärkt wird und wo Tragödien wie die von Sesto Fiorentino ganz plötzlich aufkommen können.
Am Tag unseres ersten Besuchs waren ca. 30 junge Männer dort, wobei sehr wahrscheinlich die Anzahl der Bewohner*innen höher ist. Unter ihnen waren sehr viele pakistanische, bengalische und einige afrikanische Personen. Und jeder von ihnen hat eine andere, persönliche Geschichte und andere Begründungen für die Tatsache, dass er oder sie dort ist, weniger als 500 Meter von den CIE* und CARA* von Caltanissetta entfernt. Die pakistanischen, genauso wie die bengalischen Geflüchteten sind nach einer langen und sehr gefährlichen Reise entlang der Balkan-Route in Pian del Lago angekommen, weil sie von der angeblichen Effizienz des Polizeipräsidiums Caltanissetta angezogen waren (das Immigrationsbüro ist im gleichen Gebäuden des Präsidiums untergebracht). Was sie dort aber vorgefunden haben, ist die bekannte, vom Polizeipräsidium ausgestellte Warteliste: Ein absolut informelles Blatt Papier, das früher oder später den Geflüchteten die Möglichkeit geben wird, ihren Antrag auf internationalen Schutz zu stellen und eventuell einen Platz innerhalb des Zentrums zu bekommen. Das ist eine komplett illegitime Praxis, die nicht nur die Aufnahme um Monate nach hinten verschiebt, sondern auch die formale Antragstellung auf internationalen Schutz nicht zeitnah zulässt. In Folge dessen bleiben die Geflüchteten illegal im Land bis zum Termin bei der Behörde. Die Wartezeit kann mitunter Monate betragen und diese Zeit verbringen die Asylsuchenden im überfüllten Camp ohne Papiere und ohne jegliche Fürsorge.
Wir haben dort 4 ivorische junge Männer kennengelernt, einige von ihnen mutmaßliche Minderjährige, die jedoch als volljährig identifiziert wurden. Alle haben uns haarsträubende Geschichten erzählt, die, wenn sie nicht wahr und von vielen bestätigt wären, kaum zu glauben wären. Diese Geschichten außerdem geben einen Einblick in die weitverbreiteten Praktiken, die im Verfahren zur Anerkennung des internationalen Schutzes angewendet werden, was vom Zufallsprinzip gesteuert zu sein scheint. Diese jungen Männer gehörten zu einer Gruppe von 41 Ivorer*innen, die am 16. November in Catania an Land gingen. Jedem von ihnen ist, ohne einen ersichtlichen Grund, eine andere Behandlung widerfahren und wenigstens 7 von ihnen sind von niemandem über ihre Rechte aufgeklärt worden und niemand hat sich ihre persönliche Geschichte angehört. Sie erzählten uns auch, dass 10 von ihnen ihren Antrag auf internationalen Schutz sofort haben stellen können und sind demnach in das CARA* aufgenommen worden. Dementgegen haben die Anderen eine Anordnung zur Ausweisung erhalten und sind sofort in das CIE* übergestellt worden. Dort hat, nach den ersten 30 Tagen, der Friedensrichter die Haftverlängerung für einen weiteren Monat bestätigt. Jedoch wurden am 27. Dezember, das heißt lange vor Ablauf der Frist, 12 von ihnen entlassen, vermutlich weil das Ministerium freie Plätze für Neuankömmlinge brauchte, die zur Festnahme verurteilt wurden.
Sie haben uns außerdem erzählt, dass der Asylantrag von 5 von ihnen, nachdem sie aus dem CIE* ausgewiesen wurden, positiv entschieden wurde und sie in das CARA* aufgenommen wurden. Vier Weitere sind zum informellen Camp gegangen und die Anderen haben es vorgezogen, Caltanissetta zu verlassen. Sehr wahrscheinlich werden diese Geflüchteten nicht Berufung einlegen und bleiben demzufolge illegal im Land, ohne zu wissen, was auf sie zukommt. Die anderen 19 Geflüchteten sind weiterhin in der Abschiebehaft und warten dort drauf, dass die Frist der Haft abläuft.
Bei unserem zweiten Besuch haben wir festgestellt, dass auch die 4 Ivorer, die wir beim ersten Mal kennengelernt hatten, in der Zwischenzeit in das CARA* aufgenommen worden waren, nachdem sie den Asylantrag gestellt und Berufung gegen die Abschiebung eingelegt hatten. Wir haben aber auch Migrant*innen kennengelernt, die obwohl sie Berufung gegen die Ablehnung des internationalen Schutzes eingelegt hatten, immer noch keine Aufnahme im System bekommen haben. Diese Situation resultiert aus den illegitimen Praktiken, die einige Polizeipräsidien anwenden: In der Tat hat der*die Asylsuchende das Anrecht auf Aufnahme, so lange seine*ihre Berufung nicht entschieden wurde.
Es gibt auch noch Menschen dort, die obwohl sie den internationalen Schutz bekommen und dementsprechend eine Aufenthaltsgenehmigung haben, immer noch auf der Straße leben. Diese Menschen haben eine zermürbende Zeit hinter sich gebracht, in der sie auf ihre Papiere gewartete haben und oft waren sie in Einrichtungen untergebracht, die keine Integrationsprogramme hatten. Somit ist die Zeit des Wartens zwar zu Ende, aber es fehlt eine reelle Perspektive der sozialen Integration.
Eine weitere illegitime Praxis, die etliche Polizeipräsidien jedoch durchführen und die weitreichenden Folgen hat, ist es, für die Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung eine Meldebescheinigung für diejenigen vorauszusetzen, die den Schutz bekommen haben. Diese Praxis hat zum Beispiel in Caltanissetta dazu geführt, dass viele Menschen, Italiener*innen wie Migrant*innen, sich auf Kosten der Neuankömmlinge bereichert haben, in dem sie überteuerte fiktive Meldebescheinigungen verkaufen. Das ist eine wahrhaftige Spekulation auf Kosten vieler, die einfach von der Stadtverwaltung gestoppt werden könnte, wenn sie nur den sogenannten virtuellen Wohnsitz für die Wohnsitzlosen wieder aktivieren würde.
Unsere Besuche in Pian del Lago haben mit einem sehr deutlichen und unmissverständlichen Schnappschuss die Realität des Aufnahme- und Asylsystems in unserem Lande eingefangen. Diese Realität besteht aus illegitimen Praktiken; aus Minderjährigen, die wie Volljährige behandelt werden; aus Migrant*innen, die ohne einen ersichtlichen Grund abgewiesen werden, ohne von jemandem je über ihre Rechte informiert worden zu sein. Die Aufnahme bei uns fußt viel mehr auf mathematischen Berechnungen als auf den tatsächlichen Bedürfnissen der Empfänger*innen und dadurch werden die Migrant*innen auf sich gestellt, von den Institutionen verlassen und verstärken somit die Massen der Illegalen und Ausgebeuteten. Ein System, das illegale Einwanderung begünstigt und das nicht nur dem Zufallsprinzip gehorcht, sondern vielmehr einer klaren politischen und institutionellen Strategie zu folgen scheint.
Nicolas Liuzzi
Borderline Sicilia
CARA* – Centro di accoglienza per richiedenti asilo – Aufnahmezentrum für Asylsuchende
CIE* – Centro di Identificazione ed Espulsione – Abschiebungshaft
Aus dem Italienischen von A. Monteggia übersetzt