Um nicht im Schweigen zu verharren
Pozzallo, Augusta, Catania, Lampedusa, Palermo: in Sizilien enden die Seereisen der Geflüchteten aus Libyen. Entlang der Küsten gehen Rettungen, Schiffbruch und Tod in einander über. Geflüchtete sterben in Kühl-LKWs, in denen sie als Waren transportiert wurden, von der Wüste bis zur Küste Libyens, von wo sie vermutlich die Überfahrt nach Italien versucht hätten.
Die, die vor einer Woche überlebten und die Aufmerksamkeit der Medien fanden, sind wenige von Tausenden, die jeden Tag Opfer des Menschenhandels werden. Uns in Italien versuchen die Überlebenden den erlebten Horror zu beschreiben, aber sie bleiben meistens ungehört.
Ankunft der Golfo Azzurro im Hafen von Pozzallo
Die Erzählungen der Überlebenden sind klar und detailliert, jedoch schenken Wenige ihren Berichten Beachtung.
Libyen ist das Land, mit dem die EU den Grundstein zu einer Vereinbarung über die Aufgaben der libyschen Küstenwache gelegt hat, die verhindern soll, dass die Migrant*innen von dessen Küsten aus ihre Reise nach Europa antreten. Tatsächlich aber ist die libysche Küstenwache damit beschäftigt, die Toten zur See und die, welche an die Küste zurückgespült werden, zu bergen.
Italien aber hat mit Libyen bereits eigene Abkommen getroffen, um den Menschenhandel zu bekämpfen und die Anlandungen zu reduzieren. Ein Rechtsakt, der bis jetzt nur von der Regierung in Tripoli anerkannt wird und darum von zweifelhafter Rechtskraft ist. Darum ist er sowohl heuchlerisch als auch besorgniserregend.
Während leere Rhetorik und Diskussionen die eigentlichen Interessen der verantwortlichen Institutionen nicht ans Licht bringen, ist das Schweigen derer, die den Tod riskieren ohrenbetäubend, manchmal weil sie schweigen wollen, aber allzu oft weil sie dazu gezwungen werden.
Am Sonntag, den 19. Februar 2017 ist die Golfo Azzurro in Hafen von Pozzallo gelandet. An Bord waren 466 Migrant*innen auf unvorstellbar gedrängtem Raum, unter ihnen mehr als hundert allein reisende Minderjährige, viele Frauen und Familien aus Pakistan, Bangladesh, dem subsaharischen Afrika und Syrien. Sie wurden vor der Küste Libyens gerettet – eine der vielen Rettungsaktionen dieser Tage.
Schwierige meteorologische Verhältnisse – Transfers und Rettungen an denen auch die Patrouillen der italienischen Küstenwache und die norwegische Siem Pilot der Frontexmission für die Kontrolle und Überwachung des Mittelmeers teilgenommen haben. Die Anlandungen in Pozzallo spielen sich wie immer ab: das Hauptgewicht liegt auf den sofortigen, verschiedenen Kontrollprozeduren auf dem Kai, wo drei „vermutete Schleuser“ und ein Dutzend Zeug*innen von den anderen Migrant*innen getrennt werden.
Stechende Sommersonne, Regen oder starker Wind, wie an diesem Tag, haben keinen Einfluss auf das Vorgehen, auch wenn die Migranten kaum geschützt und bekleidet sind und Familien, Frauen und Kinder lange wartend ausharren müssen. Das Auswahlverfahren, die Festnahmen oder Transfers werden ohne korrekte Übersetzungen vorgenommen und bestimmen eventuell zukünftige Strafverfahren gegen die Geflüchteten, die aber allzu oft (nach nur einigen Tagen im Gefängnis) auf die Straße gesetzt und sich selbst überlassen werden.
Stillschweigen herrscht über die unlauteren Versprechungen, die den Zeug*innen gemacht werden, damit sie Namen nennen. Niemand erzählt von der Panik in den Augen derer, die als Schlepper verdächtigt, von den anderen getrennt werden. Es wird nicht gesprochen darüber, dass die Erstaufnahme keine Aufnahme ist, sei es nun im einzigen Zimmer des Hotspots in Pozzallo, in der Zeltstadt in Augusta oder im Aufnahmezentrum von Mineo. Was wir hören sind die Namen der festgenommenen, verdächtigten Schlepper, ihr Alter und woher sie kommen. Was später geschieht interessiert die Medien nicht mehr: viele von ihnen werden wieder auf freien Fuß gesetzt, andere kommen ins Gefängnis ohne sich verteidigen zu können, ohne die Möglichkeit zu berichten, warum sie geflohen sind, denn sie sprechen noch kein Italienisch.
Nichtsdestotrotz gehen die Abschiebungen weiter, genau wie die Fluchten aus den außerordentlichen Aufnahmezentren. Die Auswahl der Migrant*innen mit Schutzstatus basiert weiterhin auf deren Nationalität. Das sind alles ungesetzliche Vorgehen, von denen unser sogenanntes „Aufnahmesystem“ durchdrungen ist. Und alle wissen es – nicht nur die Anwält*innen sondern ebenso alle Akteur*innen der Institutionen, die Mitarbeiter*innen der Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen, die Angestellten in den Empfangsstrukturen und alle, die mit Migrant*innen zu tun haben. Einige leisten Widerstand gegen die europäische Politik und rufen zur Verantwortung auf. Viele schweigen über diese tägliche Missachtung der Gesetze, die doch ein Teil der strukturellen Missachtung des Rechts ist.
Eine Stimme zu haben und gehört zu werden ist jedoch ein Recht, dass sich die meisten Geflüchteten nicht einmal erkämpfen können, denn dafür garantieren nur wenige Staaten Europas. Sprechen wir von denen, die ihre Aufgaben ernst nehmen und die sich um wirkliche soziale Inklusion und Sozialisation, wie sie in den Empfangszentren vorgesehen wäre, bemühen. Das wäre die Basis für ein ziviles Zusammenleben und aktive Solidarität: die italienische Sprache sprechen, Kontakt mit der lokalen Bevölkerung pflegen, sich über die eigene Situation informieren und dafür Verantwortung übernehmen zu können… es sind die Voraussetzungen, dass sich die Migrant*innen nicht als Nummern sondern als Personen fühlen – ein Weg zur Selbstbestimmung und Rechtsgleichheit.
In vielen andern Fällen erleben wir Ausgrenzung und Ausschließung (ob physisch oder sozial) derer, die zu uns kommen. In den weit abgelegenen Empfangszentren wird auch das Erlernen unserer Sprache eine Illusion.
Wie im Fall von E., einem unbegleiteten Jugendlichen, der seit fast sechs Monaten im Erstaufnahmezentrum von Chiaramonte Gulfi, einem Dorf in der Provinz Ragusa, untergebracht ist. Die Einrichtung wird von der Institution Pia Rizza Rosso geführt, die auch ein außerordentliches Empfangszentrum betrieben hat, das aber letzten Sommer geschlossen worden ist. Den gleichen Leuten werden jetzt wieder 20 Minderjährige anvertraut.
Die einzigen Sprachstunden finden jeden zweiten Tag im Zentrum selbst statt. Die Wochen vergehen mit „obligatorischen“ Fußballspielen zwischen Einsamkeit und Langeweile. Isoliert leben, keine Interaktion mit gleichaltrigen Italiener*innen und ohne Bezug zur Empfangsgemeinde führt zu Frustration, Wut und Depression – aber vor allem zum Drang zu flüchten.
„Dass ich bis jetzt noch nicht geflüchtet bin, hat damit zu tun, dass ich am Anfang zu schwach war und kein Geld hatte“, erzählt S., seit Februar 2015 Gast im Empfangszentrum von Vittoria in der Provinz Ragusa. „Am Anfang war es wirklich schwer für mich. Ich verstand nichts und je weniger ich verstanden habe, desto mehr nahmen meine Probleme zu“, fährt er in flüssigem Italienisch weiter.
S. kommt aus Gambia. Wir haben uns im Sommer 2015 kennengelernt. Damals war sein Blick auf den Boden gerichtet, wenn er mit uns sprach. Er hatte uns erklärt, dass es unmöglich sei, Italienisch zu lernen, weil sein Kopf während der Lektionen woanders war. Auch für ihn war es nicht möglich, die Schule zu besuchen. Die Lektionen am Abend fanden in einem kilometerweit entfernten Gebäude statt, mit dem Fahrrad wenigstens eine halbstündige Wegstrecke. Im Winter bei Kälte und Dunkelheit war das zu gefährlich.
Darum: keine Schule, keine neuen Freunde, nur sporadischer Unterricht innerhalb des Zentrums, das erst seit einigen Monaten mit Öfen und Heizung ausgerüstet wurde. So ist es nun möglich, sich drinnen aufzuhalten, ohne wegen der Kälte ständig nach draußen zu rennen und sich Bewegung zu verschaffen um sich aufzuwärmen. Eine deprimierende Situation, der S. sich mit entschlossener Miene stellt, auf seine eigenen Kräfte zählend. „Ich habe gemerkt, dass ich alleine lernen kann mit den Büchern, die ich bekommen habe. Ich habe angefangen zu verstehen und mich verständlich zu machen. Endlich kann ich mit meinem Anwalt sprechen. Ich kann mich ausdrücken und die Leute hören mir zu. In meinem Land steckt man die Leute ins Gefängnis um sie zum Schweigen zu bringen, hier nicht. Hier sind es andere Methoden, die dich zum Schweigen zwingen.“
Lucia Borghi
Borderline Sicilia
Übersetzung aus dem Italienischen von Susanne Privitera Tassé Tagne