Bergung oder Rettung? Kriminalisierung der Rettungsaktionen und weitere Tragödien auf dem Meer

Die Nachricht des letzten schrecklichen Schiffsbruchs vor der Küste Libyens ist gerade Mal einige Stunden alt: Laut dem Bericht der NGO Pro-activa Open Arms, die 5 Leichname in der Nähe von zwei leeren Schlauchbooten geborgen hat, sollen ca. 240 Menschen hierbei ihr Leben verloren haben. Am vergangenen 20. März wurden weitere 38 Tote vor der Küste Libyens geborgen. Die Migrant*innen waren an Bord von 2 auf dem Meer treibenden Schlauchbooten, die von der libyschen Küstenwache „gerettet“ wurden.

 


Das Schiff Ocean Carrier erreicht Pozzallo

Diese Nachrichten werden von unabhängigen Journalist*innen, die am südlichen Ufer des Mittelmeeres arbeiten, verbreitet und nur selten von den üblichen Medien weitergegeben. Die mutmaßliche Rettung durch die libysche Küstenwache ist alles andere als Menschenrettung: Die auf dem Meer geborgenen Migrant*innen müssen zu der Gewalt zurückkehren, aus der sie gerade geflohen waren und dort wieder warten, bis genug Geld da ist, um erneut die Flucht zu versuchen. Die engen Verbindungen zwischen der Libyschen Küstenwache und den großen kriminellen Familien, die dem Menschenhandel vorstehen, sind hinlänglich bekannt. Und doch führt Italien, mit der Unterstützung der EU, den Dialog mit Tripoli weiter mit dem Ziel, die Reisen der Migrant*innen in Richtung Italien und Europa zu kontrollieren und im besten Fall zu stoppen. Die Übereinkunft steht noch auf wackeligen Beinen und es ist schwer, die weitere Entwicklung vorherzusagen, jedoch ist klar, dass Italien den Wunsch verfolgt, die Grenzkontrolle abzugeben und diese Aufgabe an Länder zu delegieren, die den Schutz der Menschenrechte nicht garantieren.

Die libysche Küstenwache wird ausgebildet und es werden Vereinbarungen mit Tripoli getroffen und gleichzeitig werden die NGOs, die auf offenem Meer Rettungen durchführen, knallhart kriminalisiert. Der Staatsanwalt von Catania hat vor der Schengener Kommission behauptet, dass „das unmittelbare Eingreifen der NGO-Schiffen die Ermittlungen erschwert und die Nachforschungen in Bezug auf mögliche Helfer*innen der kriminellen Organisationen nutzlos macht“.

Mit diesem Perspektivwechsel wird die Urquelle des Problems verkannt: das Fehlen eines sicheren und legalen Zugangs für die Menschen auf der Flucht. Hingegen werden die angeprangert, die versuchen, die Anzahl der Toten dieses seit Jahren auf dem Meer stattfindenden Massakers zu verringern. Wer die Rettungen durch die NGOs kriminalisiert, ist sicherlich nicht um das Wohlergehen der „geretteten“ Migrant*innen besorgt – das steht außer Zweifel. In der Tat sind die von Handelsschiffen durchgeführten Rettungen öfters risikobehaftet, wenn nicht direkt tödlich – während der Rettungsmanöver auf offenem Meer ist es oft leider zu Unfällen gekommen – und die Erste Hilfe und die Betreuung der Migrant*innen auf diesen Schiffen ist oft gleich null. Vor circa einem Jahr, am 18. April 2016, ist die Studie “Death by Rescue” publiziert worden, die von den Forschern der Forensic Oceanography – University of London – im Zusammenarbeit mit WatchTheMed durchgeführt wurde. Durch Analysen und Datenvergleiche belegt diese Studie, dass die Präsenz von „humanitären“ Schiffen auf dem Wasser nicht nur dazu geführt hat, dass wenige Tote zu beklagen sind, sondern auch maßgeblich dazu beigetragen hat, die logistischen Mängel in den Rettungsaktionen auszugleichen, nach dem Abschluss der Operation Mare Nostrum.

Eine sehr wichtige Erklärung des gleichen Staatsanwalts von Catania bezüglich der Problematik der „mutmaßlichen Schleuser“ besagt, dass „die oft sehr jungen Schleuser von den kriminellen Organisationen gezwungen werden, die mit Migrant*innen voll beladenen Boote zu ‚fahren‘ und sie unter erheblichem Druck stehen, so dass in ihrem Fall die Straftat der Begünstigung der illegalen Immigration nicht darstellbar ist“. Diese Aussage können wir sehr gut nachvollziehen und hoffen, dass sie eine Wendung in der Ermittlungsarbeit, die wir bis gestern gesehen haben, herbeiführen wird. In der Tat ist am Montag in Pozzallo das Schiff Echo mit 369 Migrant*innen an Bord angekommen und sofort nach dessen Ankunft hat die Nachricht die Runde gemacht, dass 5 „mutmaßliche Schleuser“ festgenommen wurden. Ferner treffen wir immer noch etliche Migrant*innen, die nach Wochen aus dem Gefängnis entlassen werden und auf der Straße landen. Sie erzählen uns von Gewalt und Folter, die sie in Libyen erlebt haben und ihren Berichten entnehmen wir die Bestätigung, dass sie absolut nicht bei der Ankunft über ihre Rechte informiert wurden und dass sie nicht einmal den Grundschutz, der jedem Neuankömmlingen zusteht, bekommen haben. Die Suche nach „mutmaßlichen Schleusern“ und die Feststellung der Nationalität, um spätere Abweisungen und Rückführungen zu ermöglichen, haben während der Anlandungsoperationen Priorität, sogar wenn die Neuankömmlinge sich nicht alleine auf den Füßen halten können. Und das sind die Ergebnisse!

Der Zustand der ankommenden Migrant*innen hat sich immer weiter verschlechtert. Zwischen denen, die in den letzten Tagen angekommen sind – in Catania mit dem Schiff Aquarius und in Pozzallo mit dem Schiff Ocean Carrier – hatten mehrere Schussverletzungen. Der Hafen Augusta sticht wieder mal hervor dank der unwürdigen und illegalen Aufnahmepraxen: Am 20. März ist am Hafen Augusta das Schiff der Küstenwache Dattilo mit an Bord 1477 Migrant*innen, die in 7 verschiedenen Rettungsaktionen gerettet wurden, angekommen. Unter den Migrant*innen waren ca. 200 unbegleitete Minderjährigen und viele Frauen. Über hundert von ihnen haben die erste Nacht im Hafen noch am Bord des Schiffes und den nächsten Tag zusammengepfercht in der Zeltstadt verbracht – alle zusammen: unbegleitete Minderjährige, Männer und Frauen. Für die Polizei heute nur Zahlen – morgen eventuell Menschen mit dem Recht auf individuellen Schutz.


Das Handelsschiff Ocean Carrier am Hafen von Pozzallo

Am Morgen des 22. März erreichen 497 Migrant*innen den Hafen von Pozzallo. Es ist die zweite Anlandung in weniger als 24 Stunden. Das Schiff, das diesmal den Hafen erreicht, ist das Handelsschiff Ocean Carrier. Die sehr schlechten Bedingungen derjenigen am Bord des Schiffes sind schon sichtbar in dem Moment, wo das Schiff sich dem Kai nähert: Migrant*innen, die auf den Container niederkauern, wie Hühner auf der Stange, dicht gedrängt in gefährlichen Ecken, auf der Kippe zwischen der Angst, ins Meer zu verschwinden und der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Unter ihnen sind circa sechzig Syrer*innen, mehrere Migrant*innen aus Bangladesch, die auch am Montag zahlreich ankamen, und Migrant*innen aus den afrikanischen Gebieten südlich der Sahara. Am Bord des Schiffes war leider kein medizinisches qualifiziertes Personal und sogar die ersten Screeningoperationen sind nicht sorgfältig durchgeführt worden: Einige Migrant*innen zeigen Schussverletzungen und bei vielen gibt es deutliche Anzeichen der Dehydratation und Unterernährung; die Schwangeren wurden nicht untersucht und direkt nach der Ankunft mussten mehrere Migrant*innen ins Krankenhaus gebracht werden. Und trotz der desolaten Lage haben die Polizei und die Frontex-Mitarbeiter*innen ihre Energie primär in die „Jagd“ auf die „mutmaßlichen Schleuser“ gesteckt. Sie haben einige Migrant*innen, sobald sie aus dem Schiff gekommen waren, lange verhört und direkt auf dem Kai die mutmaßlichen „Schuldigen“ von den Zeugen getrennt. Am nächsten Tag schon berichtete die lokale Presse über die Festnahme von 4 Personen.


Migrant*innen auf Lampedusa – Ph. Forum Sociale Lampedusa

Im Hotspot in Pozzallo gibt es leider immer noch viele Minderjährige und die Lage auf Lampedusa ist gelinde gesagt himmelschreiend. Zwischen Sonntag und Montag sind dort mit zwei Anlandungen 520 neue Geflüchteten angekommen und mit ihnen ist die Anzahl der sich im Hotspot aufhaltenden Migrant*innen auf ca. 650 angestiegen. Die Situation ist sehr schlecht dort: Ein ruhiges Plätzchen zu finden, wo die Matratze hingelegt werden kann, ist fast unmöglich geworden. Wir wissen, dass sich im Zentrum viele Frauen und Minderjährigen befinden, sowie Menschen, die von sich behaupten, aus Syrien zu stammen, zusammen mit vielen jungen Männern aus Tunesien, die hier schon seit mehr als 2 Monaten „geparkt“ sind! Die Aufenthaltsfristen werden überschritten, die ständige Überbelegung wird ignoriert und der Hotspot wird zum Zentrum umfunktioniert, wo Menschen festgehalten werden und ständig zur Verfügung der Polizei stehen. Aber anscheinend stört sich niemand daran!

Die Ankünfte gehen weiter mit Anlandungen in Messina, in Trapani, wo heute 315 Menschen angekommen sind, und sogar auf Sardinien, wo das Schiff Siem Pilot mit 902 Migrant*innen und vermutlich einem Leichnam an Bord in Richtung Cagliari unterwegs ist. Die Tragödie auf dem Meer geht also weiter, nur wir ziehen es vor, sie zu vergessen.

Lucia Borghi
Borderline Sicilia

Aus dem Italienischen von A. Monteggia übersetzt