Die Hoffnung ist, dass sich der Wind dreht
Artikel vom 28. Juli 2021
Wir stellen uns eine Frage und wir stellen sie euch auch: Wenn vor einigen Tagen ein Marokkaner auf einen Italiener geschossen hätte, mit wie vielen Stunden Programm, Spezialsendungen, Interviews, rassistischen Kommentaren und fetten Überschriften in den Zeitungen wären wir, eurer Meinung nach, wohl überschwemmt worden?
Dagegen hat sich die Presse zum Resonanzboden der Verteidigungsthesen der Anhänger der Partei des Stadtrates gemacht, der bewaffnet durch Voghera marschiert ist und einen Menschen erschossen hat (dem auf der Stelle der Prozess gemacht wurde für die Straftat zu existieren) und des Schweigens der anderen Politiker*innen. Unterdessen steigt der Rassismus wie ein schwarzer Gezeitenstrom weiterhin: Feige Menschen, die sich hinter einem Bildschirm verstecken und bereit sind bei jeder Gelegenheit Hass auszuspucken und Gewalt zu schüren, diktieren die Linien der politischen Debatte in unserem Land.
Eine schäbige und besonders gewalttätige politische Klasse, die sich weiterhin im Spiel der Parteien Macht und Sessel teilt, und nur noch fähig ist, auf die Straße zu gehen, wenn es um Fußball geht, die Droge unserer Zeit.
Und es ist klar, dass man in diesem gewollten Schweigen nicht von dem Zentrum auf Lampedusa spricht, das zurzeit, wegen der Ankünfte in den vergangenen Tagen, mehr als 1.400 Menschen beherbergt, ungefähr 1.150 über der Kapazitätsgrenze. Wegen des ruhigen Meeres kamen auf Lampedusa mehr als 1.000 Menschen an, – zum Glück gesund und wohlbehalten. Diese Menschen sind aber in einem Zentrum, das nicht angemessen ist, zusammengepfercht. Dort ist die oft beklagte Promiskuität an der Tagesordnung, Kinder bekommen keine besondere Aufmerksamkeit, Corona-Positive sind in einem einzigen schmutzigen Raum untergebracht, wo sie außer Covid noch andere Krankheiten riskieren, wo schlafen ein Privileg ist, und gesicherte Informationen zu bekommen eine Utopie.
Im Hotspot von Lampedusa gibt es, laut Nachrichten, die uns von einigen dort eingeschlossenen Menschen erreichen, besonders bedenkliche Situationen. Menschen haben uns z.B. berichtet, dass sie nicht wüssten, warum sie, seit mehr als einem Monat wie Gefangene auf der Insel gehalten werden. Es handelt sich um einen Ort, der nicht existiert, der vom Radar der Journalist*innen, von Reporter*innen verschwunden ist, den der Innenminister verheimlicht, um das tun zu können, was er für nützlicher und angemessener hält. Das ist in einem Rechtsstaat einfach inakzeptabel.
Der Stress dieser Personen, die von Lampedusa kommen, ist beträchtlich. Keine Antworten oder Informationen zu bekommen, nachdem sie das Leben riskiert haben und in den libyschen Lagern weggeschlossen waren, ist schlicht verabscheuungswürdig.
Wie auch die Situation in den CPR* verabscheuungswürdig ist, insbesondere in dem von Pian del Lago in Caltanissetta, wo fortwährend protestiert wird – unter dem absoluten Schweigen aller Interessierten, der Medien und Politik. Dort werden sehr viele Tunesier*innen weiterhin in totaler Unwissenheit über ihre eigene Zukunft gehalten. Zudem sind sie gezwungen unter wirklich prekären hygienischen Bedingungen zu leben. Eine der vielen Hilfsanfragen seitens tunesischer Familien betrifft Personen, die Schutz beantragen wollen, die aber von den Quarantäne-Schiffen in die CPR überführt werden, wenn es nicht sogar auf direktem Weg zum Flughafen geht.
Ebenso unmenschlich ist auch die Behandlung, die den Menschen auf einer anderen Insel widerfährt. Diese ist weniger berühmt als Lampedusa, wird aber in dieser Zeit immer mehr zu einem Ziel, das von kleinen tunesischen Anlandungen genutzt wird. Die Insel heißt Pantelleria, aber sie wird mit keinem Wort erwähnt. Die Organisation der Ankünfte ist gänzlich außerhalb eines normativen Rahmens: Es gibt kein offizielles Zentrum mit Rechtsstatus. Die Menschen werden in einer Einrichtung des Verteidigungsministeriums festgehalten. Dort wird ein Raum mit einer Kapazität für 20 Personen genutzt. In Zeiten wie jetzt beherbergt er aber mehr als hundert, für einige Tage oder Wochen, bevor sie in die Einrichtung Milo nach Trapani verlegt werden.
Die Menschen leben dort in Promiskuität, und die Verwaltung liegt in den Händen des Militärs. Dieser andere Nicht-Ort steht auf keiner offiziellen Liste. Deswegen ist es praktisch unmöglich, Nachrichten von unbegleiteten 14- bis 16-jährigen Jugendlichen zu bekommen. Sie werden von Familienangehörigen gesucht, die berichten, dass sie vergangene Woche auf der Insel angekommen sein müssten. Ein Schweigen, das jegliche Rechte und die Mütter, die auf Nachricht warten, tötet.
Dagegen besetzen die Nachrichten über Brände in den Zentren den Raum in den Medien, die den abgrundtiefen Hass der Kommentatoren im Web lostreten. In Pozzallo ist es wie in anderen Zentren nicht das erste Mal, aber die Verwaltung ändert sich nicht. Der Mangel an Klarheit und die Verletzung von Rechten tragen natürlich dazu bei, dass die Menschen rebellieren und es der institutionellen Gewalt in gleicher Münze heimzahlen.
Auch über Villa Sikania, eines der Covid-Zentren in der Provinz Agrigent, ist das mediale Schweigen in Kraft getreten, aber hin und wieder berichtet eine Pressenotiz von Massenfluchten.
In diesem Fall ist das Leben im Zentrum für sehr viele Menschen in totaler Promiskuität nicht einfach, besonders wenn die Regeln nicht eingehalten werden. Die letzte Flucht hat eine Gruppe nach drei Quarantäne-Zyklen, die insgesamt mehr als ein Monat gedauert haben, unternommen. Diese wütenden Menschen, unter ihnen viele unbegleitete Minderjährige, haben sich zunächst auf Sizilien verbreitet, dann in den Rest von Italien. Der Quarantänezyklus in Villa Sikania ist nicht immer von gleicher Länge, weil es fast nie gelingt, die Tests an den vom Protokoll vorgesehenen Tagen zu machen. Folglich verlängern sich Quarantäne-Zyklen unvermeidlich. Die Abläufe sind immer angespannter und schwieriger in diesem Zentrum. Es ist dauernd voll belegt, Streitigkeiten unter Minderjährigen sind an der Tagesordnung, besonders zwischen Tunesiern und Menschen aus dem Subsaharischen Afrika.
Diese ganzen Situationen treiben die Spannung in die Höhe und treiben die Minderjährigen dazu zu denken, dass die Mitarbeiter*innen die Resultate der Abstriche fälschen, damit das Zentrum voll bleibt und sie immer mehr verdienen, wie es uns einige von ihnen berichtet haben. Eine explosive Situation, die die Politik nicht auflöst. Stattdessen wartet sie darauf, dass in den Händen explodiert. Dann werden die Opfer nur ein Kollateralproblem sein, dass der Hass mit einigen faschistischen Erklärungen von Politiker*innen und militanten Rassist*innen ausradieren wird.
Der Wind des Hasses und des Faschismus weht stark. Er tut weh, ist gewalttätig und erntet jeden Tag Opfer. Er macht, dass sehr viele Mütter um ihre Söhne und Töchter nicht einmal trauern können. Das ist wie bei dem Fall des Mordes, der in der Nacht zwischen dem 29. und 30. Juni nahe Lampedusa geschehen ist. Dabei starben 7 Frauen, darunter eine Schwangere und ein 15-jähriges Mädchen. 10 Vermisste liegen noch immer auf dem Grund des Meeres, in 90 Metern Tiefe. Sie bleiben dort, weil es ökonomisch kostspielig ist die Leichen zu bergen. 10 Mütter, 10 Väter, 10 Ehegatten, 10 Schwestern können um ihre eigenen Lieben nicht trauern, ihnen keine würdige Bestattung geben, weil die Politik entschieden hat, dass es sich nicht lohnt, ein Mensch zu sein.
Und unter absolutem Schweigen zählen wir weiterhin die Toten auf dem Meer: 57 Menschen sind die neuesten Opfer während eines Schiffbruchs vor der libyschen Küste.
Eine unserer ehrenamtlichen Mitarbeiter*innen hat auf den sozialen Kanälen geschrieben: „Vor einem Jahr, am 25.7.2020, ist Hamdi Besbes im Wasser vor Lampedusa verschwunden. Bis heute gibt es noch keine Spuren von ihm. Schuld daran sind die mörderischen Institutionen, die getötet, die Wahrheit versteckt und den verzweifelten Schrei der Familie ignoriert haben. Genau heute, ein Jahr nach dem Verschwinden von Hamdi sagt mir ein Freund, der an der Grenze von Lampedusa kämpft, dass es dort Wind gibt und schlechtes Wetter, und er hofft, dass diejenigen, die die Grenze überqueren nicht vom Meer überwältigt werden. Wir hoffen es. Und gemeinsam kämpfen wir weiterhin gegen diesen politischen Wind, der tötet und in Gleichgültigkeit wegreißt. Wir haben unsere Erinnerung, die wir dieser Auslöschung entgegenstellen. In diesem Meer der Gewalt und des Vergessen-werden gibt es Widerstand: Hamdi, wir vergessen dich nicht, niemals.“
Die Hoffnung ist, dass sich der Wind dreht, und wir werden weiterhin pusten, damit dies geschieht.
Alberto Biondo
Borderline Sicilia
*CPR: Centri di Permanenza e Rimpatrio – Zentren für Aufenthalt und Rückführung ins Heimatland
Übersetzung aus dem Italienischen von Rainer Grüber