Ein Angriff auf die Menschheit

Artikel vom 7. Juli 2021

Der zwanzigste Jahrestag des G8-Gipfels von Genua naht und Italien ist immer noch ein Land, das zu leicht und zu oft die Menschenrechte mit Füßen tritt und sich durch seine Institutionen mit Verbrechen beschmutzt.

Allein in den letzten Tagen konnten wir ein Video sehen, in dem Gefängniswärter wehrlose und unbewaffnete Häftlinge in einem Gefängnis foltern. Ein anderes Video zeigte, wie die [sogenannte] libysche Küstenwache, welche mit öffentlichen italienischen und europäischen Geldern bezahlt, ausgebildet und unterstützt wird, auf ein Boot mit Migrant*innen schießt und es rammt.

In der Zwischenzeit, um den libyschen Kriminellen so viel Freiraum wie möglich zu geben, blockieren die italienischen Behörden mit technischen Tricks die Rettungsschiffe der NGOs in den Häfen.

Wir sind ein Staat, der die Menschen, die er in seiner Obhut hat und die er schützen soll, misshandelt und tötet, ein Staat, in dem täglich jemand am Arbeitsplatz stirbt. Wir sind ein Staat, der Angriffe auf die Menschheit verübt und in dem dies ungestraft bleibt.

Fortlaufend spült das Meer Leichen an die tunesischen und libyschen Strände, während Hunderte Mütter um ihre Kinder trauern, die es nicht schaffen anzukommen. Frauen und Kinder zahlen den höchsten Preis in diesem einseitigen Krieg, einem Krieges, der von einem Europa geführt wird, das gegenüber menschlichem Leid taub und blind ist.

Ankünfte und Todesfälle sind auf Lampedusa alltäglich und lösen immer die gleiche Notfallrhetorik aus. Den Hotspot und die Insel immer in einem Zustand der Not zu lassen, ist kriminell. Seit zu vielen Jahren müssen wir dem üblichen skandalösen Schauspiel der Überfüllung, den Schaumstoffmatratzen, die auf den Boden im Hof einer schäbigen Einrichtung geworfen werden, die ununterbrochen renoviert wird, beiwohnen. Ein Zentrum, in dem nur zwei Ärzt*innen arbeiten, welche 700 Personen versorgen müssen, von denen die meisten schutzbedürftig sind, und oft Vorerkrankungen haben. Welche Art von Hilfe und Aufmerksamkeit können zwei diensthabende Ärzt*innen bieten? Keine.

Rechtsbeistand fehlt ebenso völlig. In Lampedusa werden keinerlei Auskünfte gegeben – eine klare Entscheidung dieser und der vorangegangenen Regierungen, die den ankommenden Menschen ein Recht verweigern. Das Konzept der Hotspots basiert weiterhin auf einer Abschöpfung anhand der Nationalität der ankommenden Personen, was zur Folge hat, dass nur sehr wenige Nordafrikaner*innen die Möglichkeit haben, Schutz zu suchen. Es gibt weder Weitblick noch Zeit, um dem zuzuhören, was die Menschen mitteilen möchten.

 

Weiterhin unbegleitete Minderjährige auf den Quarantäneschiffen

Dieser abartige Mechanismus bewirkt außerdem auch, dass auf den Quarantäneschiffen sehr viele unbegleitete Minderjährige landen. Wir sehen uns weiterhin gezwungen, Beschwerden bei den zuständigen Behörden einzureichen, um dieser illegitimen Praxis ein Ende zu setzen. Auf unseren letzten Bericht antwortete das Jugendgericht in Palermo, dass das Polizeipräsidium von Trapani versichert habe, dass sich keine unbegleiteten Minderjährigen an Bord des Schiffes Adriatico befänden. In Wirklichkeit jedoch ist das Problem – in diesem wie in vielen anderen Fällen –, dass aufgrund fehlender juristischer Auskünfte und der übereilten Prozeduren bei der Identifizierung das Alter der Minderjährigen erst an Bord des Schiffes ermittelt wird, wo sie dann gezwungen sind für die Dauer der Quarantäne zu bleiben.

Wir erhalten auch Berichte über Minderjährige, die von Verwandten begleitet werden, die gerade erst volljährig geworden sind, und die getrennt werden: Der/die gerade erst volljährig gewordene Tunesier*in wird in ein Rückführungszentrum gebracht, während der/die Minderjährige in einer Wohngemeinschaft untergebracht wird. Oft sind es Kinder zwischen 10 und 12 Jahren, die von der einzigen Bindung, die sie in Italien haben, getrennt werden. Auf den Quarantäneschiffen sind die vom Roten Kreuz eingesetzten Arbeitskräfte oft unerfahren, was ihr Handeln ineffektiv macht. Die Schwierigkeit, oder wir könnten sagen, die Unmöglichkeit für Tunesier*innen, Zugang zu Schutz zu erhalten, wird durch die zahlreichen Meldungen und Hilfsgesuche, die unseren und andere Vereine erreichen, dokumentiert. Sehr viele Tunesier*innen schreiben und bitten um einen Anwalt, weil ihnen nicht zugehört wird, viele Angehörige schreiben, um etwas über ihre Verwandten zu erfahren, die seit Wochen ohne jede Erklärung auf Lampedusa eingesperrt sind.

Nach der Beendigung der Quarantäne auf den Schiffen folgt für die Tunesier*innen der Übergang zur nächsten Etappe dieser etablierten Praxis: Es geht zum Flughafen für die Rücküberführung, ohne auch nur das Rückführungszentrum zu durchlaufen, je nach Verfügbarkeit an Plätzen. Allein der Zufall entscheidet über den Ort, an den die Tunesier*innen gebracht werden, denn es gibt welche, die kommen nach Gradisca oder nach Mailand, um nach der Prozedur zur Rücküberführung wieder nach Palermo gebracht zu werden. In der Praxis bedeutet das jede Menge Geld, um das Geschäft der Grenzkontrollen zu nähren, ein durch die Politik legalisierter Handel.

 

Zustand und Zahlen des Aufnahmesystems in Sizilien

Das andere Geschäft der Migration betrifft das Aufnahmesystem, in dem sich die Bedingungen in zu vielen Einrichtungen von Jahr zu Jahr verschlechtern. Auch für das allgemeine Aufnahmesystem, dessen Akronym immer wieder verändert wird (das letzte ist SAI), ähneln die Aufnahmebedingungen in vielen Zentren immer mehr denen der Außerordentliche Aufnahmezentren (CAS*). Man arbeitet im Notfallmodus, auch in den Zentren, die eigentlich italienische Spitzenklasse sein müssten. In den letzten Wochen sind bei uns zahlreiche Berichte eingegangen, insbesondere in Bezug auf die SAI in der Gegend von Trapani und die CAS in der Gegend von Agrigento, in denen es offensichtlich sich selbst überlassene und gewalttätig miteinander streitende Familien diverser Fraktionen gibt, ohne, dass die Leitung etwas dagegen unternimmt.

Wir haben auch Berichte von gerade volljährig gewordenen Schutzbedürftigen bekommen, die in die SAI untergebracht sind und dort nach zwei Tagen aus Zimmern ohne Möbel, mit Kakerlaken, und wo es so heiß war, dass die Menschen auf dem Balkon schlafen mussten, flüchten, bevor sie eine mögliche Eingliederung in Italien aufgeben.

Es ist ein System, das nichts mit Integration zu tun hat. Einziger Verdienst der Kooperativen, die die SAI auf eine Weise verwalten als seien sie CAS, ist das Erzeugen von Gespenstern, die in Sizilien herumlaufen. Aufgrund von Covid-19 konnten wir die Aussagen der Kinder und der Familien, die mit uns Kontakt aufnehmen, noch nicht überprüfen, aber wir bleiben weiterhin aufmerksam und leiten alle Berichte an die zuständigen Behörden weiter, damit diese ihre Aufgabe des Monitorings aller Aufnahmeeinrichtungen wahrnehmen können.

Monitoring ist gerade auch wegen Covid-19 fast inexistent. Es hinterlässt enorme Risse in einem schon seit langem ineffizienten Aufnahmesystem und vergrößert die Probleme. Die Bedingungen derjenigen, die vor allem in den CAS leben, sind und bleiben ein Geheimnis für die Öffentlichkeit, aber wenn wir uns auf die Aussagen vieler Menschen beziehen, scheint es, als seien wir in die Zeiten der Verwaltung durch den Zivilschutz von 2011 zurückgefallen.

Nach Angaben des Innenministeriums, die wir auf unseren Antrag auf allgemeinen Zugang zu den Bürgerdaten erhalten haben, gibt es in den sizilianischen Provinzen 78 aktive CAS, die sich in folgender Weise verteilen: 17 in Palermo mit einer Kapazität von 751 Plätzen, 16 in Ragusa mit 554 Plätzen, 8 in Trapani mit 473 Plätzen, 5 in Syrakus mit 473 Plätzen, 10 in Agrigent mit 365 Plätzen, 10 in Messina mit 342 Plätzen, 10 in Enna mit 311 Plätzen und 2 in Catania mit 37 Plätzen. Insgesamt 3.287 Plätze in sizilianischen CAS, wobei die einzige Provinz, in der es keine gibt, Caltanissetta ist, die momentan über ein Abschiebungszentrum und ein Covid-Zentrum für 195 Personen verfügt. Catania ist die Provinz mit den wenigsten Plätzen, nach Jahren, in denen das riesige CARA von Mineo den europäischen Rekord an Asylbewerbern hatte.

Zu diesen Zahlen müssen noch die Covid-Plätze in Agrigent (309), Ragusa (195), Trapani (179) und Syracus (37), insgesamt 995 Covid-Plätze in Sizilien addiert werden.

Die Provinz Agrigent ist aufgrund der Nähe zu Lampedusa und aufgrund der Verwaltung der Quarantäne-Schiffe dem größten Druck ausgesetzt und aus diesem Grund müsste die Präfektur mit mehr Personal ausgestattet, statt jedes Jahr weiter vernachlässigt zu werden.

Auch dies ist ein Symptom einer Krankheit, die Italien seit Jahren mit sich herumträgt, eine Improvisation, die einen immer weniger versteckten Faschismus begleitet, Angriffe auf die Menschheit, die sich tagtäglich auf Kosten unschuldiger Opfer eines kranken Systems fortsetzen.

 

Alberto Biondo
Borderline Sicilia

 

*CAS: Centro di accoglienza straordinaria – Außerordentliches Aufnahmezentrum

 

Aus dem Italienischen übersetzt von Jutta Wohllaib