Von der Immigration auf Sizilien erzählen
Sottoilcielodelleande.wordpress.com – Wir haben uns mit Paola Ottaviano im Café des Theaters im Zentrum von Modica verabredet. Ich habe sie, dank Giovanni, der sie mir vorgestellt hat, zufällig ein paar Tage zuvor in der Buchhandlung Mondadori kennengelernt.
„Sie ist eine tüchtige Frau. Sie hat, zusammen mit anderen, einen Verein gegründet, der sich um Migrant*innen kümmert“, hatte er mir gesagt, und ich habe ihn gebeten, sie anzurufen, um ein Treffen zu vereinbaren.
Laura Salvai Intervista a Paola
Vor dem Café des Theaters warten wir zu viert auf sie. Giovanni, ich, meine Reisegefährtin Chiara und der Maler Ignazio Monteleone, der zufällig vorbeikam und sich zu uns gesetzt hat. Wir haben uns einen Tisch im Schatten eines Baumes ausgesucht. Es ist zehn Uhr morgens und schon sehr heiß.
Paola kommt wenig später und beginnt sofort, unsere Fragen zu beantworten. Sie ist 42, Anwältin und gehört zu Borderline Sicilia, einem Verein, der gegründet wurde, um die Situation der Migrant*innen ständig zu beobachten.
Der Verein hat seinen Sitz in Modica, wenige Kilometer entfernt von Pozzallo, einer der Hauptanlandungspunkte auf Sizilien. Hier und in anderen Teilen der Region sammeln die Freiwilligen die Geschichten von Männern, Frauen und Kindern, die am eigenen Leib die Konsequenzen der Abkommen mit Libyen erleben, des Wegfalls der Rettungen, des katastrophalen Managements bei den Ankünften und der Hasskampagnen gegen Migrant*innen, die in der letzten Zeit mit dem Ausnahmezustand Covid noch schlimmer geworden sind.
„Wir haben eine Internetseite, eine Facebook-Seite und ein Twitter-Profil, die Informationen bezüglich der Anlandungen und der Aufnahme veröffentlichen und ankurbeln“, erzählt Paola. Die Nachrichten handeln von Missbrauch, illegaler Anwerbung unterbezahlter Landarbeiter*innen, von Problemen im Zusammenhang mit den Aufnahmeeinrichtungen, von der Abschiebung und der Migrationspolitik.
„Als Verein sind wir 2008 entstanden und unsere erste öffentliche Initiative war die Feier zum Gedenken an die Opfer des Schiffsbruchs vor Vendicari 2007. Es ist uns bewusst geworden, dass wir gegenüber dem Schicksal der Migrant*innen, die auf dem Meer sterben, nicht gleichgültig bleiben können. Wir wollten etwas machen und die Realität der Migration erzählen, jenseits von Stereotypen und politischer Instrumentalisierung. Wir sind eine kleine Organisation und das gibt uns große Bewegungsfreiheit. Wir hängen nicht von institutionellen Geldgebern ab, die unsere Entscheidungen beeinflussen könnten. Über das Monitoring hinaus, bieten wir den Migrant*innen auch rechtlichen Beistand an, und wir versuchen eine Aktivität der Anwaltschaft im Blick auf Kollektivanträge voranzubringen, zum Beispiel über die Frage der sogenannten zeitverschobenen Ausweisungen, besser gesagt: angeordnet nach der Anlandung. Wir haben mit Oxfam zusammengearbeitet, mit der Diakonie der Waldenserkirche und den Ärzten für Menschenrechte. Da ging es um Projekte wie Berichte über die Folter in Libyen und die Unterstützung der besonders schutzbedürftigen Migrant*innen, die vom Schutz- und Aufnahmesystem ausgeschlossen bleiben“.
Borderline Sicilia fordert eine würdige Aufnahme der Überlebenden bei den Anlandungen und klagt die Verantwortung Italiens und der EU für die Toten und die Leiden der Migrant*innen ein, die von der libyschen Küstenwache zurückgebracht werden.
Die Situation von denen, die ankommen, nachdem sie den Tod auf dem Meer riskiert haben, hat sich durch das politische Klima verschlimmert. Dieses steht der Öffnung der Grenzen feindlich gegenüber. Auf dem Höhepunkt des Dublin-Vertrages, die es denjenigen, die in Italien angelandet sind, verhindert, sich frei in Europa zu bewegen, um in ein anderes Land zu kommen, fehlen legale und sichere Kanäle zum Eintritt in Europa. Die Migrant*innen sind gezwungen im Land der Erstanlandung zu bleiben und geraten in die Fänge von Ausbeutung, Kriminalität und Verzweiflung.
Zu den erst kürzlich auf der Internetseite veröffentlichten Geschichten gehört die von Sana, einem jungen Mann aus Gambia, der aus den libyschen Gefängnissen geflohen ist, und der es satt hat, auf Dokumente, die von der italienische Polizeidirektion ausgestellt werden sollten, zu warten. Er ist weggegangen und hat sich den Unsichtbaren angeschossen. Weiters gibt es die Geschichte von Fred, auch er aus Gambia, ausgebeutet für zwölf Stunden Arbeit am Tag auf den Feldern Agrigents. Und auch noch die Geschichte von Ebrima, einem jungen Mann aus Ghana mit psychischen Problemen, Erbschaft der libyschen Lager, der wie ein Roboter durch die Straßen Palermos streift.
Ab und an gibt es zum Glück auch einige Geschichten mit erfreulichem Ausgang. Wie jene von Kwausu, der mit seinen Gefährten 2016 in Palermo angelandet war, nachdem er auf dem Meer gerettet wurde. Heute lebt er mit seiner Frau Amira in Deutschland. Sie ist mit ihm zusammen auf dem gleichen Schiff auf Sizilien angekommen. Seit kurzem haben sie einen Sohn: „Ich habe ihn Matteo genannt, wie dein Sohn“ erzählt Kwausu dem Freiwilligen, der ihm vier Jahre zuvor geholfen hat, seine Frau wiederzufinden, die in ein Krankenhaus eingeliefert worden war. „Ich konnte ihn nicht Borderline Sicilia nennen“.
Paola spricht jetzt seit mehr als einer Stunde mit uns. Es ist Zeit, einen Kaffee mit Granita alla Mandorla zu trinken. Ich bitte sie noch, mir etwas zu den Einrichtungen der Aufnahme zu erzählen, die in diesen Jahren heruntergeschraubt wurden, durch finanzielle Einschnitte und immer restriktivere Regelungen.
„Das Hauptproblem der Aufnahme ist, dass immer noch so getan wird, als handele es sich um ein Notfallmanagement, obwohl die Anlandungen jetzt seit zwanzig Jahren stattfinden. Das verhindert eine effiziente Kontrolle derer, die die Aufnahme machen und verhindert die Entwicklung von Projekten, die dem Wachsen und der Autonomie der Menschen dienen: man begnügt sich damit, Essen und Unterkunft bereitzustellen. In der Öffentlichkeit spricht man nur davon, um sich über die Tatsache zu beschweren, dass Geld für Migrant*innen ausgegeben wird, aber niemand erzählt von den Problemen, die mit der schlechten Verwaltung verbunden sind. So wie man nie von den positiven Rückwirkungen für die Gegend spricht. In diesen Jahren hat die Aufnahme sehr vielen jungen Menschen Arbeit gegeben, die sonst Sizilien hätten verlassen müssen. Die öffentlichen Gelder finanzieren italienische Kooperativen, die auch in Gebieten arbeiten, wo es eigentlich keine Arbeit gibt“.
Während sie spricht betrachte ich das Panorama von Modica mit den sehr schönen Häusern des historischen Zentrums, zum Großteil verlassen, weil es an Käufern fehlt. Und ich denke daran, wie diese Stadt wäre, mit ihrem wunderbaren Licht und dem angenehmen Klima, wenn es da für alle mehr Zukunftsperspektiven gäbe und es möglich wäre, hier zu bleiben.
Laura Salvi
Aus dem Blog Sotto il cielo delle Ande
Aus dem Italienischen übersetzt von Rainer Grüber