Ein Jahr nach der Unterzeichnung des Migrationsabkommens zwischen Italien und Libyen bestätigt der neue Bericht von Oxfam und Borderline Sicilia die Zeugenaussagen über Tod und Folter in Libyen.
Wir fordern von der Regierung Italiens: sofortige Aufhebung des Übereinkommens, das Misshandlungen zur Folge hat und die internationales Recht missachtet.
Rom, 1. Februar 2018 – Hunderttausende werden noch in Gefängnissen in Libyen festgehalten, wo sie jeglichen Misshandlungen ausgeliefert sind. Ein Jahr nach dem von Europa unterstützten Übereinkommen zwischen Italien und Libyen, um die illegale Zuwanderung von Migrant*innen nach Europa zu unterbinden, haben Oxfam und Borderline Sicilia einen weiteren Bericht verfasst: Libia, inferno senza fine, Libyen, Hölle ohne Ende, es sind Zeugenaussagen von Frauen, Männern und Minderjährigen, denen die Flucht nach Italien gelang. Sie berichten über Entführungen, Morde, Vergewaltigungen und Zwangsarbeit.
Das Übereinkommen beinhaltet, dass Italien und die Europäische Union der libyschen Küstenwache finanzielle und logistische Unterstützung gewähren. Das eine Ziel davon ist, die Mittelmeerüberquerungen überhaupt zu verhindern und die Rückführungen nach Libyen zur See zu gewährleisten. Das andere ist, das innerafrikanische Grenzkontrollsystem zu Land südlich von Libyen finanziell zu unterstützen und die Aufnahmelager in Libyen mit medizinischer Ausrüstung und Medikamenten zu beliefern.
Oxfam und Borderline verlangen die sofortige Aussetzung dieses Abkommens und den Stop aller Rückführungen nach Libyen von Migrant*innen, denen die Flucht aus den menschenunwürdigen Internierungslagern gelingt, einschließlich derer, die in gemeinsamen Operationen mit der libyschen Küstenwache durchgeführt werden.
Am zweiten Februar 2017 hat Italien mit der Regierung der nationalen Einheit von Tripolis eine Absichtserklärung unterzeichnet, die am folgenden Tag von den Staats- und Regierungschefs bei einem informellen Treffen auf Malta abgesegnet wurde. Dieses Memorandum respektiert weder die Menschenrechte noch ist es konform mit dem internationalen Recht. Zudem hat Libyen die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 über den Schutz von Personen auf der Flucht, im Krieg und vor Verfolgung nie unterzeichnet.
Die zentrale Mittelmeerroute bleibt die gefährlichste von allen
Die italienische Regierung hat mehrmals betont, dieses Abkommen unterschrieben zu haben, um dem Sterben im Mittelmeer, auf den von Menschenhändlern organisierten Reisen der Hoffnung, ein Ende zu bereiten. Trotzdem hat sich die Sterblichkeitsrate auf dieser Route nicht wesentlich verändert. Heute ist die Mittelmeerroute die gefährlichste der Welt, mit 2,38% Opfern auf den Überfahrten im Jahr 2017( von allen die sich eingeschifft haben), gegenüber 2,52% im Jahre 2016. Auch das Jahr 2018 hat nicht gut angefangen mit bereits 185 Toten, was 5.1% entspricht. Ebenso scheint die Bekämpfung der Menschenhändler nicht vorwärts zu gehen, von vielen Küstenabschnitten Libyens starten die Boote wie eh und je.
„Die Verstärkung und Unterstützung der Operationen der libyschen Küstenwache durch die italienische Regierung hat die Zahl der Toten im Mittelmeer nicht gesenkt,“ berichtet Paola Ottaviano von Borderline Sicilia. „Es wird geschätzt, dass allein im Januar 185 Menschen im Mittelmeer ihr Leben verloren. Die relative Abnahme der Ankünfte in Italien wird als politischer Erfolg gefeiert. Diese Zahl entspricht jedoch den Rückführungen in die libyschen Internierungslager, aus denen sie nach erlittenen, schlimmen Misshandlungen entfliehen konnten.“
In diesem Zusammenhang muss erwähnt werden, dass alle Bemühungen der Afrikanischen Union, der Europäischen Union und der Vereinten Nationen die Migrant*innen aus den libyschen Internierungszentren zu befreien lobenswert sind. Aber sie sind ungenügend, weil die meisten der in Libyen gefangenen Personen davon nicht erfasst werden können. Denn die libyschen Behörden gewähren nur wenigen Nationalitäten den internationalen Schutzstatus.
Die EU soll sich für die Befreiung der Gefangenen in Libyen stark machen
„Die Menschen, mit denen wir gesprochen haben, fliehen vor Krieg, Verfolgung und Armut“, berichtet Roberto Barbieri, Generaldirektor von Oxfam Italia. „In Libyen geraten sie in eine weitere Hölle. Die europäischen Regierungen haben die Pflicht, die Menschenrechte aller zu schützen, also auch die der Migrant*innen. Wem es gelingt aus Libyen zu entkommen, dürfte nie dorthin zurückgeführt werden. Darum betrachten wir die Unterstützung, die Italien und die EU der libyschen Küstenwache gewähren als Schande. Die Übereinkunft mit Libyen ist ein Fehlschlag, der Hunderttausenden unaussprechliches Leid zufügt“, fügt Barbieri an. „Wir verlangen die sofortige Aufhebung dieses Abkommens. Eine neue Vereinbarung soll erst unterzeichnet werden, wenn die normative Situation in Libyen die Sicherheit von Geflüchteten und schutzbedürftigen Migrant*innen garantieren kann. Statt die Abreise aus Libyen zu verhindern, muss die Europäische Union versuchen, alle Gefangenen, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit, zu befreien.“
Libyen ist nach jahrelangen Konflikten ein tief destabilisiertes Land. Laut den Vereinten Nationen sind 1,3 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen – umgesiedelte Libyer*innen und Hunderttausende Migrant*innen, die Arbeit suchen oder auf der Durchreise in andere Länder sind – auf der Suche nach Sicherheit und einem würdevollen Leben.
In ihrem Bericht basierend auf Zeugenaussagen (158 Interviews) vom August 2017 haben Oxfam, Borderline und MEDU* angeklagt, dass 84% der interviewten Personen in Libyen Opfer von Gewalt, unmenschlicher Behandlung und Folter wurden, 74% waren Zeugen von Folter und Mord. Die neuen Zeugenaussagen aus dem Zeitraum nach dem Migrationsabkommen Italien / Libyen berichten, dass sich die Lage nicht verändert hat: Entführungen zur Gelderpressung, nicht entlöhnte Zwangsarbeit, Vergewaltigung und sexuelle Sklavenarbeit von Frauen – ein Zeuge berichtete über als Sklaven verkaufte Kinder.
Berichte von Zeug*innen
Precious, 28 Jahre alt, aus Nigeria
„Bei meiner Ankunft in Tripolis wurde ich gefangen genommen. Ich war zusammen mit andern Frauen und Männern. Man verlangte Geld von uns und behandelte uns wie Abfall. Wir aßen nur einmal am Tag ein wenig Reis oder rohe Nudeln und tranken Wasser aus Benzinkanistern. Einige Personen starben an Krankheiten oder Schlägen. Uns Frauen hat man jeden Tag geschlagen und vergewaltigt und erst nach den Misshandlungen gaben sie uns zu essen.“
Blessing, 24 Jahre alt, aus Nigeria
„Nach der schlimmen Reise durch die Wüste hoffte ich, dass sich meine Situation in Libyen bessern würde. Ich hatte geglaubt, eine Stelle als Hausangestellte antreten zu können, so wie es mir gesagt wurde. Stattdessen wurde ich in ein Zentrum gebracht, wo ich viele Monate blieb. Man gab mir eine Handvoll Reis am Tag, den sie mir direkt in die Hände schütteten. Meinen Körper haben sie arabischen Männern verkauft, ich konnte mich nicht wehren. Wenn ich es trotzdem versuchte, wurde ich brutal geschlagen und vergewaltigt […]“.
Francis, 20 Jahre alt, aus Gambia
„Ich wurde von einer kriminellen Bande entführt. Sie haben uns in einen Raum gebracht, wo 300 Menschen untergebracht waren. Dort war ich fünf Monate lang. Jeden Tag wurden wir zur Arbeit gezwungen, wer sich wehrte, war tot. […]. Die Frauen wurden geschlagen und vergewaltigt, die Männer im Gefängnis wurden verkauft, als Hausangestellte in libyschen Familien.“
Barbieri von Oxfam Italien schließt: „Europa wird das Migrationsproblem nicht lösen, indem es die Außengrenzen verschiebt, nach Libyen und darüber hinaus, und auch nicht indem es die verzweifelten Menschen in die Hölle zurückschickt, aus der sie geflohen sind. Es müssen sichere Migrationsrouten geschaffen werden, für die Migrant*innen auf der Suche nach Arbeit. Und es muss garantiert werden, dass die Asylbegehren transparent und korrekt durchgeführt und beurteilt werden.“
Pressestelle Oxfam Italia
Mariateresa Alvino – 348.9803541 – mariateresa.alvino@oxfam.it
David Mattesini – 349.4417723 – david.mattesini@oxfam.it
Weitere Angaben:
•Der Oxfam-Bericht von August 2017 L’inferno al di là del mare (Die Hölle auf der anderen Seite des Meeres) kann hier heruntergeladen werden.
•Oxfam unterstützt die MigrantInnen in Italien durch die Verteilung von Nahrungsmitteln, Kleidern, Schuhen und die Grundausstattung zur Körperpflege; Oxfam betreut schutzbedürftige Migrant*innen psychologisch; bietet juristische Unterstützung und Italienischkurse für Asylbewerber*innen; Oxfam arbeitet mit den lokalen Behörden zusammen bei der Aufnahme der Migrant*innen in den verschiedenen italienischen Gemeinden.
•Oxfam hat aufgedeckt, dass Mittel der ODA *, (Official Development Assistance) der öffentlichen Entwicklungszusammenarbeit (Teil der OECD) zweckentfremdet wurden. Die Gelder wurden zur Bewältigung der Migrationsströme verwendet (wie der Trust Fund Africa zeigt) und um die europäischen Außengrenzen nach außen zu verlegen. In einer neuen Analyse zeigt Oxfam zusammen mit Openpolis*, dass immer mehr Mittel dazu in Europa selber verwendet werden, um die Migrationsströme zu bewältigen und nicht in den Herkunftsländern der Migrant*innen, wie es die öffentliche Entwicklungszusammenarbeit ODA der OECD bestimmt.
•Die Namen der Zeugen sind aus Sicherheitsgründen geändert.
*ODA: Official Development Assistance ist Teil der OECD*, der Organisation for Economic Co-operation and Development, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Die Official Development Assistance ODA ist als Zuwendung in Form von Zuschüssen und Darlehen an die Entwicklungsländer der sog. DAC-Liste* definiert, die
•vom öffentlichen Sektor vergeben werden
•in erster Linie der Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung und der Verbesserung der Lebensbedingungen dienen; und
•mit vergünstigten Konditionen ausgestattet sind, was im Falle von Darlehen bedeutet, dass diese Mittel ein Zuschusselement von mindestens 25 % (lieferungebundene Finanzierungen) aufweisen müssen. (Quelle: Wikipedia)
*DAC: Development Assistance Committee / Komitee zur Bestimmung der als Entwicklungsländer geltenden Nationen
*DAC Liste: Liste der Entwicklungsländer nach der Definition des DAC
*MEDU: Medici per i Diritti Umani / Ärzte für Menschenrechte, der internationalen Solidarität verpflichtete, gemeinnützige, unabhängige, humanitäre Organisation
*OECD: Organisation for Economic Co-operation and Development / Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit
*Openpolis:Italienische Non-profit-Organisation zur Transparentmachung der italienischen Politik auf allen Ebenen, nach dem Vorbild der griechischen Polis der Antike.
aus dem Italienischen übersetzt von Susanne Privitera Tassé Tagne