Alessio D’Angelo – Leiter des Masters Migration, Society and Policy Programme,
ist Mitglied des Teams der Universität Middlesex, das an dem ESRC-DFID-Projekt
“EVI-MED- Aufbau einer Grundlage zur Migration im Mittelmeer” arbeitet. In
seinem letzten Blogpost berichtet er über ein Sizilien, wo der Hotspot-Ansatz
dramatisch das Panorama der italienischen Migrationskrise verändert hat.
In den letzten Monaten wurde die Migrationskrise als “Chaos” bezeichnet.
Diese Bezeichnung oder andere sind insbesondere in Bezug auf die Situation in Griechenland
verwendet worden, wo laut amtlicher Statistiken fast eine Million Ankünfte über
das Meer zwischen Januar 2015 und Januar 2016 verzeichnet wurden. Die Zahlen
stellen jedenfalls nicht das “Chaos” dar.
Krise der Aufnahme
Es handelt sich einerseits um eine internationale und europäische
politische Krise – die diplomatischen Stillstände in den vergangenen Tagen
zeigen dies eindeutig. Andererseits befinden wir uns in einem krisengeschüttelten
Aufnahmesystem. Jeder, der vor Ort gewesen ist, kann bestätigen, dass es ein
Euphemismus wäre, das Aufnahmesystem in Griechenland als mittellos und
unorganisiert zu beschreiben. Können wir daher erwarten, dass ein effizientes
und funktionierendes Aufnahmesystem an der Mittelmeerküste sobald wie möglich
angewendet wird? Das hängt natürlich davon ab, was man unter „effizient“
versteht. Sicherlich bin ich durch meine Besuche in Sizilien in den vergangenen
Monaten vorsichtiger in Bezug darauf geworden, was ich mir zu wünschen erhoffe.
Sizilien, die Hauptankunftsstelle der Geflüchteten in Italien ist, hat seit
letztem September eine relativ schnelle Implementierung des sogenannten
Hotspotansatzes erfahren. Dieser wurde zu Beginn als erster
Schritt auf dem Weg zur „Agenda zur Migration“ der europäischen Kommission vom
Mai 2015 bezeichnet wurde. Nun steht der Ansatz im Mittelpunkt der italienischen
„Road Map“, die kürzlich vom
italienischen Innenministerium herausgegeben wurde. Der erste italienische
Hotspot ist auf der Insel Lampedusa am 21. September 2015 eröffnet worden.
Danach folgten Trapani (20. Dezember 2015) und Pozzallo (19. Januar 2016).
Weitere sind in den nächsten Monaten geplant (siehe Abbildung 1).
Bei der großen Mehrzahl von ihnen handelt es sich nicht
um neue Einrichtungen, sondern um eine neue Bezeichnung für bereits
existierende Aufnahmeeinrichtungen, die minimal umgebaut werden und in denen
europäische Agenturen wie Frontex und EASO* eine wichtigere Rolle spielen
sollen.
Die italienischen Hotspots
Abbildung 1-die italienischen Hotspots (die existierenden
sind rot gekennzeichnet, die geplanten grün).
Der Hotspot-Ansatz
Was ist also ein Hotspot? Das offizielle Dokument sieht
keine sehr detaillierte Beschreibung vor, aber die grundsätzliche Idee ist,
einen Bereich für die Ankünfte zu schaffen, wo die Migrant*innen kontrolliert
werden (Screening), identifiziert werden und wo ihre Fingerabdrücke abgenommen
werden (gegen ihren Willen, wenn nötig). „Diejenigen,
die Asyl beantragen“, erklärt ein europäisches Paper, werden „unverzüglich
in das Asylverfahren geleitet.“ „Diejenigen, die keinen Schutz benötigen“,
werden hingegen in ihr Herkunftsland zurückgeschickt. Der Teufel versteckt sich
in den Details und viele Menschenrechtsorganisationen haben die angewendete
Eilmethode zur Trennung der „wahren“ Asylsuchenden von den „einfachen“
Wirtschaftsmigrant*innen
kritisiert.
Eine der am häufigsten angewandten Methoden in den
italienischen Hotspots ist der sogenannte „foglio notizie“. Es handelt sich
hierbei um einen kurzen Fragebogen, der allgemeine Personalien sammelt und die
Migrant*innen auf determinierende Art und Weise nach dem Grund ihrer Ankunft fragt. Der Fragebogen sieht eine Anzahl von auszufüllenden
Kästchen vor -Familienzusammenführung, Arbeit und Asyl sind einige der
verfügbaren Optionen. Verschiedene Versionen werden in verschiedenen
Einrichtungen verwendet und, so scheint es, zu verschiedenen Zeitpunkten. Wenn
aus irgendwelchen Gründen Arbeit als Option gewählt wird, dann wird man
automatisch als Wirtschaftsmigrant*in eingeordnet. „Die Personen verstehen nicht genau, warum sie den
Fragebogen ausfüllen müssen“. „Es ist lächerlich“, hat einer der örtlichen
Aktivist*innen erklärt, den ich in diesem Monat getroffen habe. „Viele dieser
Personen sind nicht in der Lage, zu verstehen, warum sie den Fragebogen
ausfüllen müssen, und eine korrekte Interpretation ist nicht immer möglich.“ Wir
wissen, dass viele Migrant*innen „Arbeit“ ankreuzen, weil sie zeigen wollen,
dass sie bereit sind, sich wirtschaftlich zu integrieren und gerade aus diesem
Grund wird ihnen das Asylrecht verweigert.
Die Netzwerke unter den Migrant*innen sind sehr schnell, so dass die
Neuankömmlinge extreme Skepsis in Bezug auf jedes
Stück Papier zeigen, das ihnen vorgehalten wird. Trotzdem ist der Fragebogen
nur eine der Methoden, die zur Auswahl stehen. Es werden auch Interviews
abgehalten, auch wenn die Mehrzahl der Anwälte, die in diesem Bereich arbeiten,
nicht in der Lage sind, eine klare Erklärung darüber zu liefern, wie diese ablaufen.
Auch in diesem Fall werden verschiedene Praktiken an verschiedenen
Zeiten und Orten angewendet.
„Klare Verletzung“
Letztendlich weiß jeder, dass das Hauptkriterium zur
Unterscheidung der „wahren“
Asylsuchenden und Wirtschaftsmigrant*innen das Herkunftsland ist. Wer aus
Ländern kommt, die als sicher gelten – genauer gesagt, wer als aus aus einem
sicheren Herkunftsland kommend erachtet wird – wird automatisch als
Wirtschaftsmigrant*in klassifiziert und erhält eine Benachrichtigung über die Zurückweisung. Das Problem ist, dass keine offizielle Liste der „sicheren
Herkunftsländern“ existiert. Trotzdem ist die Wahrscheinlichkeit, wenn man
aus Ländern wie Eritrea, Nigeria, Sudan, Gambia kommt, extrem hoch,
zurückgewiesen zu werden. Dies hat einen großen Einfluss auf diejenigen, die zu
den Hotspots gelangen, da die Mehrheit der 154.000 Ankömmlinge in Italien im
Jahr 2015 aus den afrikanischen Ländern südlich der Sahara stammen. Dementgegen
stammen von den Ankömmlingen in Griechenland nur ein paar Hunderte aus
Afghanistan oder Syrien, die vordergründig als eindeutig „wahre“ Fluchtländer anerkannt
sind. „Es handelt sich hier um eine freche Verletzung des Asylrechts sowie
des Menschenrechts, wie es in den internationalen Übereinkommen definiert
ist“, erklärt mir Professor Fulvio Vassallo von der Universität Palermo.
So kommen wir wieder zur Ausgangsfrage: ist dieses System
effektiv? Und noch einmal, es hängt davon ab, wie wir den Begriff Effektivität
definieren wollen. Sicherlich ist es nützlich für viele der vorgesehenen
Zwecke.
Nach der schnellen Schaffung des „Hotspotsansatzes“ durch
die italienischen Autoritäten folgten Monate der Anspannung mit ihren
europäischen Partner und den europäischen Institutionen über das Thema der
adäquaten Umsetzung des Übereinkommens von Dublin, insbesondere im Hinblick auf
die digitalen Fingerabdrücke. Vor dem Hotspotansatz konnten viele Migrant*innen
durch Sizilien und auch Italien reisen, ohne dass digitale Fingerabdrücke
abgenommen wurden, was jetzt extrem schwierig ist. Gleichzeitig ist die Ankunft
der Geflüchteten ein immer weniger sichtbares Phänomen. Die chaotische Ankunft
der Masse auf kleinen Booten auf den touristischen Stränden, wie die Bilder in
Griechenland in den letzten Tagen zeigen, passiert in Sizilien einfach nicht.
Tatsache ist, dass die Anzahl viel geringer ist, aber die koordinierten
Einsätze der italienischen Küstenwache und Frontex haben dazu geführt, dass es
jetzt virtuell möglich ist, jedes Boot viel früher zu entdecken, bevor man es
von den sizilianischen Küsten aus sehen kann. Die Migrant*innen werden an Bord
genommen und in den meisten Fällen direkt zu den Hotspots transportiert.
59 Migrant*innen werden von der Crew von Peter Henry von
Koss gerettet, die Teil der Operation Poseidon von Frontex ist. – Foto von
Kripo NCIS (Creative Commons 2.0)
Zu allererst die Politik
Dank der Implementierung der Hotspots und mit der
Verschlechterung der Situation an der griechischen Küste wird die italienische
Regierung nicht mehr als Schwachpunkt des europäischen Systems der Migration
angesehen (zumindest nicht bis zum jetzigen Zeitpunkt). In der Tat erlaubt die
Tatsache, dass die internationalen Verlegungsmechanismen überhaupt nicht funktionieren,
dem Innenminister Angelino Alfano die Schuld hierfür dem Rest Europas zu geben,
weil diese nicht in der Lage sind, sich an die Pläne zu halten. Das ist eine
interessante Revanche, wenn auch unnötig.
Von den Aktivisten der italienischen NGO Borderline
Sicilia angezeigt, hat die italienische
„Road Map“ das Aufnahmesystem in Italien erschreckend verändert (und dies auf
eine komplexere Art und Weise als hier in dem kurzen Artikel zusammengefasst
werden kann). All dies ist gemacht worden, ohne dass ein neues Gesetz
verabschiedet wurde. Die komplexe italienische Gesetzgebung in Bezug auf das
Thema der Aufnahme von Flüchtlingen ist unverändert. „Das Wort Map ist ein
politisches Einvernehmen zwischen der italienischen Regierung und Europa, das
das Gesetz unterlaufen und dessen Stelle eingenommen hat.“ Es handelt sich um
eine politische Übereinkunft, die zu allererst politische Probleme lösen soll.
Die humane Dimension der Migrationskrise ist sekundär, die Menschenrechte sind
lediglich nebensächlich. Unter diesem Gesichtspunkt ist es sehr wirksam.
Mehr Einzelheiten über die Implementierung des Hotspotansatzes, über das
Verwaltung der Ankünfte der Geflüchteten im Mittelmeer und weitere von EVI-MED gewonnenen Ergebnisse werden
in den nächsten Wochen folgen.
Borderline Sicilia nimmt teil an der Untersuchung des Projekts EVI-MED.
*EASO: European Asylum Support Office – Europäisches Unterstützungsbüro für
Asylfragen