Der aufrechte Rücken von Grace
Grace, ihr Name ist von der Autorin frei erfunden, ist eine 39-jährige emigrierte Frau aus der Elfenbeinküste. In einem lebensgefährlichen Gesundheitszustand erreicht sie im Januar 2018 die italienische Küste. Sie wird gerettet, reanimiert und überlebt gemeinsam mit ihrer sechsjährigen Tochter. Grace stellt einen Asylantrag und wird dann im Aufnahmezentrum für Asylsuchende von Mineo untergebracht. Hier lebt sie seit über einem Jahr in unangemessenen Umständen, obwohl ihr eigentlich ein Platz in einem SPRAR, einem Schutzzentrum für Asylsuchende und Geflüchtete zustehen würde.
Die Geschichte von Grace ist gezeichnet von geschlechtsbezogener Gewalt. Wie viele Frauen wird auch Grace beschnitten. Dabei handelt es sich um eine weltweit verbreitete Praxis. Die Kontrolle des Körpers der Frau ist ein machtvoller Mechanismus, mit dem Einfluss auf ihre Sexualität, Kultur und Weiblichkeit genommen wird.
Diese unerträgliche Situation, unter der auch ihre Tochter leidet, treibt Grace zur Flucht von der Elfenbeinküste in Richtung Europa. Durch die genitale Beschneidung kommt es zu ernsthaften gesundheitlichen Beschwerden. Doch auch diese können Grace nicht von der langen Reise abhalten. Ihre Route führt sie durch Lybien, wo sie in den Gefängnissen gefoltert wird. Ihr Gesundheitszustand verschlechtert sich zunehmend, Grace erkrankt an einer Blasen- und Niereninfektion, zudem leidet sie an häufigen Atembeschwerden und unter den psychologischen Folgen ihrer Flucht. Die gesundheitlichen Beschwerden von Grace können, auch nach ihrer Ankunft in Italien, nicht behandelt werden.
Ihre Rückenschmerzen seien unerträglich, sagt Grace. Dass sie trotzdem noch aufrecht gehen könne, habe sie ihrer Tochter zu verdanken. Auch sie wurde in der Elfenbeinküste Opfer von Genitalbeschneidung und sexistischer Diskriminierung. “Für das Wohl meiner Tochter bin ich bereit alles zu ertragen. Ich muss weiter kämpfen wie bisher, ich darf nicht aufgeben,” sagt Grace.
Während der juristischen Prozedur zum Erhalt des Asylstatus ereilt Grace im September 2018 ein weiterer Rückschlag. Ihr Antrag auf Internationalen Schutz wird abgelehnt. Sie erhält lediglich eine Aufenthaltsgenehmigung aus humanitären Gründen. Der Ausgang ihres Asylverfahrens unterstreicht einmal mehr eine Praxis, die wir weit öfter beobachten. Die Territorialkommissionen unterschätzen die Bedrohung durch geschlechterbezogene Diskriminierung und Gewalt, vor der auch Grace geflohen ist, um sich und ihre Tochter vor der Verfolgung zu schützen.
Grace, die nicht lesen und schreiben kann, lebt in Symbiose mit ihrer Tochter, die die Grundschule in Mineo besucht und mehrere Sprachen spricht. Vereint versuchen Mutter und Tochter mit den für Migrant*innen harten Lebensbedingungen im Aufnahmezentrum von Mineo zurecht zu kommen. Von der gesundheitlichen und sozialen Unterstützung, die ihnen zustehen würde, merken sie hier wenig.
Vor dem Eingang des Aufnahmezentrums berichtet uns das Mädchen auf italienisch von den Erlebnissen in der Schule. Grace spricht hingegen von den zunehmenden körperlichen und psychischen Beschwerden, die trotz der täglichen Einnahme von Beruhigungsmitteln nicht weniger werden, sich im Gegenteil durch das Leben im Aufnahmezentrum deutlich verschlimmern. Trotz allem bleibt sie hartnäckig, sie erzählt, dass sie immer allein weitergemacht hat und so will sie es auch weiterhin machen. “Ich muss wieder aufbrechen. Ich habe verstanden, dass es hier für mich und für meine Tochter nichts gibt. Meine Tochter muss in einer fairen und freien Welt leben, sie darf keiner Gewalt ausgesetzt sein,” sagt Grace.
Aus diesem Gespräch wird deutlich, dass Grace von niemandem darüber informiert wurde, dass sie das Urteil der Territorialkommission anfechten und in ein SPRAR eingegliedert werden könnte. Müde davon, in einer ausweglosen Situation blockiert zu sein, entscheidet Grace sich dafür einen neuen Weg einzuschlagen. Im April, während wir gemeinsam durch den Markt von Catania schlendern, verkündet sie, dass sie in den Norden nach Turin ziehen möchte. Sie könne dort bei einer Freundin unterkommen. In Turin hofft Grace Arbeit zu finden, um ein neues autonomes Leben beginnen zu können. „Wir können nicht mehr in dieser Hölle, im Aufnahmezentrum bleiben. Die Probleme wollen nicht enden, wir müssen uns ihnen stellen, denn ich darf nicht aufgeben. Ich muss meine Tochter an einen Ort bringen, an dem sie ein besseres Leben hat. Wir müssen aufbrechen. Ça va aller, es wird schon. Danke für alles“, sagt Grace, mit einer Kraft, die sie aus ihrer Selbstbestimmung schöpft.
Wir wissen nur zu gut, dass Grace nicht die einzige Migrantin ist, die die fehlende Unterstützung sowie den fehlenden Schutzstatus am eigenen Leibe zu spüren bekommt. Auch die von ihr durchlebte Verfolgung und Situation der besonderen Schutzbedürftigkeit ist kein Einzelfall. Es sind viele besonders schutzbedürftige Migrantinnen, deren Rechte verletzt werden. An das Leiden, das ihnen in ihren Herkunftsländern sowie während ihrer Flucht zugefügt wird, reiht sich das Leiden, das sie in Europa erleben. Allerdings nur dann, wenn sie es auch nach Europa schaffen, ohne vorher in der Wüste zu sterben oder im Mittelmeer zu ertrinken. Zudem ist durch das neue Sicherheitsdekret ist die Wahrscheinlichkeit auf ausreichend Schutz und Betreuung erneut gesunken.
Grace gibt uns Kraft, denn trotz all dieser erschwerenden Umstände hat sie nicht aufgehört weiter zu kämpfen. Und wie sie machen es viele Frauen. Sie trotzen der schmerzlichen Ungerechtigkeiten und verfolgen weiterhin aufrecht ihren Weg, auf der berechtigten Suche nach der Erfüllung ihrer Wünsche.
Silvia Di Meo
Borderline Sicilia
Aus dem Italienischen von Elisa Tappeiner