Das Team von MEDU in Sizilien: Augenzeugenberichte und Erzählungen aus den Lagern in Libyen.

Am 3. Oktober präsentierte das Team der Ärzte für Menschenrechte (MEDU) in Catania die Ergebnisse und Daten ihres vierjährigen Engagements im Rahmen des Projektes ON.TO. Das Projekt diente der professionellen Unterstützung von Migrant*innen, die Folter sowie unmenschliche und herabwürdigende Behandlung erfahren und überlebt haben. Das gewählte Datum ist kein Zufall: der 3. Oktober ist der 5. Jahrestag des Schiffsunglückes vor Lampedusa, bei dem 368 Menschen ums Leben kamen. MEDU entschied sich dafür, an das Ereignis zu erinnern und fordert, Libyen nicht als sicheren Hafen anzuerkennen und keine gemeinsamen Abkommen zu unterzeichnen.

Die MEDU-Gruppe, die in den Aufnahmezentren in der Provinz Ragusa (mit einer Präsenz im Inneren des Hotspots von Pozzallo) und im CARA* von Mineo akiv ist, hat in den letzten vier Jahren 450 Personen betreut und ihnen psychologische und psychiatrische Unterstützung bereitgestellt. Mehr als 80% der betreuten Personen zeigten schwere physische und psychische Nachwirkungen auf, verursacht durch ihren Aufenthalt in den libyschen Lagern. Die Berichte von den Gräueltaten, die auf der anderen Seite des Mittelmeers stattfinden, sollen dazu dienen, die öffentliche Meinung zu sensibilisieren und aufzeigen, was wirklich in Libyen passiert. Zu diesem Zweck werden persönliche Lebensgeschichten erzählt.

Giuseppe Cannella, Psychiater im Projekt ON.TO, erzählt von den unmenschlichen Bedingungen in den libyschen Gefängnissen, in denen die Migrant*innen bis zu drei Jahre festgehalten werden, bis sie dann im Mittelmeer ihrem Schicksal überlassen werden. Sie werden gezwungen ihre Bedürfnisse in Kisten, sogenannten Katzenklos, zu erledigen; sie werden gezwungen, an anderen Gefangenen Gewalt zu verüben und durch diese Folter sogar zu töten; sie werden täglich mit Werkzeugen und Schnüren geschlagen und mit Elektroschocks misshandelt; sie werden psychologisch und sexuell missbraucht, und das betrifft nicht nur Frauen (die alle systematisch vergewaltigt werden), sondern auch Männer.

Neun von zehn Personen zeigen Symptome posttraumatischer Belastungsstörungen auf und würden eine langfristige Betreuung benötigen, was aber nicht im Einklang mit der italienischen Bürokratie funktionieren kann, die verlegt oder abschiebt, ohne, dass die Behandlung abgeschlossen werden kann. Abschiebungen und Zurückweisungen lassen unter anderem die Erinnerungen an die Folter wieder hochkommen, führt Anna Dessì an, Psychologin und Psychotherapeutin der Organisation. Sie bekräftigt den in der Pressemitteilung veröffentlichten Appell: „Libyen ist kein sicherer Hafen“.

Valentina Gulino berichtet von ihrer Erfahrung als Psychotherapeutin im Hotspot von Pozzallo, in dem 73 Migrant*innen, die am 15. Juli angekommen sind, in permanenter Unsicherheit leben. Der Hotspot ist definitiv nicht der passende Ort dafür, diese Personen für eine längere Zeit aufzunehmen. Ihre Zeit in Pozzallo hält nur die Erinnerungen am Leben, die sie in den libyschen Gefängnissen gemacht haben, nicht so sehr aufgrund von Gewalt, sondern aufgrund von starker Militarisierung des Lagers und der Freiheitsberaubung. Die Uniform macht Angst und weckt Erinnerungen, sagt Samuele Cavallone, Koordinator der Organisation. Er erzählt von ähnlichen Szenen im CARA* von Mineo, in denen Migrant*innen, die offensichtlich Hilfe brauchen sich aufgrund der umstehenden Männer in Uniform nicht mitteilen.

Eine Geschichte kann stellvertretend für alle erzählt werden. Die Geschichte eines Geflüchteten, festgehalten im Hotspot von Pozzallo, der zum Zeitpunkt der Flucht dreizehn Jahre alt war und erst mit 18 Jahren Italien erreichte, nachdem er den Tod seiner Familie miterleben musste. Nachdem er im Gefängnis eingesperrt war, und noch weitere 30 Tode mitansehen musste und dazu selbst Folter sowie sexuelle und psychische Gewalt erfahren hat. Jetzt lebt er seit fast drei Monaten im Hotspot, eingesperrt, isoliert und umgeben von Militär. Eine Erfahrung, die die Erinnerung an die Jahre der unmenschlichen Behandlungen verstärkt, die mit früheren Erlebnissen verwechselt wird, führt zu einem sekundären Retrotraumatisierungsprozess, der die psychische Verletzlichkeit des Patienten erhöht. Deshalb fordert MEDU, diese Menschen sofort in die Aufnahmeländer zu bringen oder zumindest in Aufnahmeeinrichtungen, die ihrer Situation angemessener sind.

Aber die Regierungsbehörden und Territorialkommissionen scheinen den medizinischen Bedürfnissen der Migrant*innen (vor allem der Frauen) gegenüber taub zu sein. Wie im Fall der Diciotti, das Schiff, das von der italienischen Küstenwache im Hafen von Catania blockiert wurde. Dem Team wurde der Zugang verweigert, obwohl sich auf dem Schiff einige besonders vulnerable Personen befanden, die spezifische medizinische Unterstützung benötigt hätten. Nicht nur das: bis vor ein paar Monaten akzeptierten die Territorialkommissionen noch von Vereinen und Organisationen ausgestellte medizinische Gutachten, die die Notwendigkeit eines Aufenthalts aus medizinischen Gründen und psychischer Vulnerabilität bescheinigten. Jetzt sind zusätzliche medizinische Bescheide von öffentlichen Einrichtungen erforderlich. Diese haben nicht nur keinen vollständigen Einblick in die Krankengeschichte der Patient*innen, die bisher von MEDU oder anderen Organisationen behandelt wurden, sie verfügen auch nicht über kulturelle Mediator*innen, die die Beziehung zwischen Arzt und Patient fördern.

Außerdem betont MEDU, dass mit dem Antritt der neuen Regierung die Ablehnungen, auch der Fälle, die sowohl ein privates als auch ein öffentliches Gutachten vorweisen konnten, exponentiell in die Höhe gegangen sind. Das passiert vor allem im Kontext der Rundschreiben des Innenministeriums aus diesem Sommer und im Hinblick auf den Erlass des Dekrets „Immigration und Sicherheit“ (das vorgestern vom italienischen Präsidenten unterschrieben wurde, Anm.d.Red.). Dieses sieht einerseits die Verlängerung der Unterbringungsdauer in den CPR* und die Schwächung des SPRAR*-Systems vor und andererseits die Abschaffung des humanitären Bleiberechts, das durch ein Bleiberecht für besondere Fälle ersetzt werden soll, unter dieses fallen auch medizinische Gründe, im Dekret formuliert als „außergewöhnlich schwerer Gesundheitszustand“.

Zweifellos weisen die von MEDU gesammelten Fälle genau die Symptome auf, die unter diese außergewöhnlichen Bedingungen fallen würden. Leider scheinen die Territorialkommissionen nicht dieselbe Konzeption von „schwer“ zu teilen, wenn es sich um Migrant*innen handelt, die aus den libyschen Lagern kommen. Auf diese Weise wird nicht nur die Illegalisierung von Migration verstärkt, sondern physische Gewalt und mangelnde Unterstützung für besonders schutzbedürftige Menschen gehen weiter.

Peppe Platania

Borderline Sicilia Onlus

*CARA: Aufnahmezentrum für Asylsuchende
*CPR (Centri di permanenza per il rimpatrio): Abschiebungshaftzentren
*SPRAR (Sistema di protezione per rifugiati e richiedenti asilo): Schutzsystem für Asylsuchende und Geflüchtete, kommunales Aufnahmesystem auf freiwilliger Basis (keine staatliche Verpflichtung), soll zur Integration von Geflüchteten dienen

 

Aus dem Italienischen übersetzt von Helena Hattmannsdorfer