Bericht aus Lampedusa
Gegen 19 Uhr gehen wir zum Alten Hafen, weil ein Mitarbeiter von Save the Children uns informiert, dass dort ein Boot anlanden soll. Um Viertel vor Acht ist es schließlich ein Schnellboot der Küstenwache, das am Molo Favarolo anlegt, wo wir uns hin begeben hatten.
Rund 70 Menschen, ihrer Herkunft nach offenkundig aus Ländern südlich der Sahara, gehen von Bord; zwei Ambulanzen fahren weg und binnen kurzer Zeit füllt sich der erste Bus der Lampedusa Accoglienza. Es gibt nicht genügend Sitzplätze, sodass viele im Bus stehen bleiben. Nach rund zehn Minuten kommt ein zweites Schnellboot der Küstenwache an; an Bord gibt es drei Frauen, von denen eine sofort mit einer Ambulanz weggebracht wird. Die anderen beiden und alle anderen kommen an einer breiteren Stelle der Mole zusammen, wo sie auf einen weiteren Bus warten, der nach 20 Minuten eintrifft. Alle scheinen ebenfalls, wie schon die zuvor Angekommenen, aus Ländern südlich der Sahara zu kommen; lediglich zehn sind wohl vom indischen Subkontinent. Wie wir noch erfahren werden, ist unter den Gelandeten auch ein Iraker. Der Wind bläst stark und kalt; die Hilfsorganisationen und die Ordnungskräfte verteilen Decken. 60 Leute steigen in den zweiten Bus der Lampedusa Accoglienza, weitere 15 in einen Kleinbus einer Kooperative der Sozialdienste. Während die letzten 30 noch immer in der Kälte darauf warten, in das Aufnahmezentrum gebracht zu werden, fragt uns Paola La Rosa, ob wir für den Abend vielleicht heißen Tee mit viel Zucker machen könnten, denn weitere Anlandungen sollen noch folgen. Wir machen uns daher auf zur Pfarrei um zu fragen, ob man vielleicht Thermoskannen für uns hat. Dort angekommen, treffen wir auf einen der Verantwortlichen der Caritas, der die Verteilung organisieren will, allerdings nur, wenn eine Erlaubnis der Ordnungskräfte vorliegt, was uns schon beinahe demotiviert, ihm unsere Hilfe anzubieten. Angesichts unseres Insistierens lässt er sich dann aber unsere Telefonnummer geben und erklärt uns, er würde uns auf dem Laufenden halten. Mit den Leuten von Askavusa kochen wir schließlich Tee in großen Töpfen und transportieren sie gegen 21.15 Uhr zum Alten Hafen. Weitere Anlandungen sind dort schon im Gange und wir kommen direkt bis zur Mole, ohne dass uns jemand aufhalten würde. Später kommt ein Anruf von einem der Caritas-Verantwortlichen: «Habt ihr den Tee gekocht? – Alles klar, ihr habt die Erlaubnis ihn zu verteilen.» Es ist ein Beispiel für die Ineffektivität der für die Aufnahme der Flüchtlinge zuständigen Organisationen.
Wir fangen an den Tee zu verteilen, Giovanni und Michele an der Mole, Livia, Marta und Anastasia im Innern des Hafengebäudes der Stazione Marittima. In dem direkt an der Mole gelegenen Bau befinden sich 43 Frauen und Mädchen sowie 10 Kinder zwischen einem und fünf Jahren. Unter den Frauen sind zwei Schwangere, der Zustand der einen ist ernst, sie wird von einer Ambulanz weggebracht. Im Innern der Stazione Marittima befinden sich zudem die Ärzte des Roten Kreuzes, sowie die Mitarbeiter des INMP und der Ärzte ohne Grenzen. In den Toiletten und Waschräumen gibt es kein Wasser, aber offen liegende Stromkabel; letztere sind der Grund, weshalb später Elektriker eintreffen – um zu vermeiden, dass sich jemand weh tut – und zwar ausgerechnet in dem Moment, da sich Frauen halbnackt in den Waschräumen aufhalten. Die Frauen sind alle in einem einigermaßen guten Gesundheitszustand und nehmen den Tee gern, doch das Dringendste wäre, die durchnässten Kleider zu wechseln. Leider stehen indes nicht genug Kleider zur Verfügung, irgendwann gibt es nur noch Pullover und weder Schuhe noch Hosen, also das, was die Frauen nach eigenen Angaben am meisten benötigten. Es gibt auch keine Windeln für die Kleinkinder, so wenig wie Binden oder Slips für die Frauen. Warmes Wasser, um das Milchpulver zuzubereiten, kommt erst nach beinahe einer Stunde. Die Frauen sprechen fast alle Englisch und stammen offenkundig aus Ländern südlich der Sahara, viele von ihnen, wie sie sagen, aus Ghana und Nigeria; Französisch Sprechende aus Benin oder Senegal gibt es weniger. Die Frauen, mit den wir reden, erzählen uns, dass sie aus Libyen kommen, manche hatten seit einigen Jahren dort gelebt. Ein paar Frauen möchten das Hafengebäude verlassen, um sich auf die Suche nach ihren Ehemännern zu machen oder nach Taschen und Trolleys, die die Polizisten ihnen abnahmen, als sie von Bord gingen. Irgendwann werden dann Essen und auch Kisten mit Kleidern gebracht, endlich gibt es, dank der Initiative von Askavusa, auch Hosen und Binden. Um die Hosen gibt es ein Gedränge und zwischen den Frauen entstehen Momente der Spannung. Es kommt zu der paradoxen Situation, dass in vielen Fällen wir es sind, an die sich die Frauen mit ihren Bedürfnissen direkt wenden, und wir dann die Mitarbeiter der Hilfsorganisationen dirigieren oder für die Ärzte des Roten Kreuzes dolmetschen. Die Stazione Marittima ist offen, es kann kommen und gehen, wer will. Irgendwann kommen Frauen aus Lampedusa und bringen weitere Kleidungsstücke und vor allem Hosen, sie nehmen die kleinen Kinder in den Arm, liebkosen sie und kommunizieren auf ihre Art mit deren Müttern. Sie bringen den Kindern bei, «Bella Mamma!» zu sagen. Viele Mitarbeiter der Hilfsorganisationen lassen sich mit den Kindern fotografieren. Ein paar der Frauen bitten uns, unser Handy benutzen zu dürfen, andere fragen uns, wo sie sich befinden, und auf die Antwort «Italy» erwidern sie: «Good!» Der Bus kommt, der die Frauen zu dem für weibliche Flüchtlinge vorgesehenen Teil des CPSA bringen wird. Eine Frau weigert sich einzusteigen, weil sie ihren Trolley suchen will. Ein Polizist erlaubt ihr, zur Mole zu gehen und dort in den Bergen von Jacken, Plastiksäcken, Müll und Taschen zu suchen; Anastasia und mich bittet er, sie zu begleiten. Verwundert gehen wir. Wir sind nicht allzu zuversichtlich, das Gepäckstück wiederzufinden, doch unglaublicherweise findet die Frau binnen etwa zehn Minuten den Trolley und ihre Jacke, in der noch ihr – für sie so kostbares – Handy ist. Zur gleichen Zeit sind Giovanni und Michele am Ende der Mole, wo sie mit einem Thermosbehälter der Ärzte ohne Grenzen den von uns gekochten Tee verteilen. Die Migranten sind von Bord zweier großer Schnellboote der Guardia di Finanza gegangen. Sie kommen aus verschiedenen afrikanischen Ländern nördlich des Äquators, einige sprechen Englisch, andere Französisch, drei junge Männer behaupten Libyer zu sein und lachen dabei, denn dem Akzent nach sind sie offenkundig Tunesier. Ein junger Mann aus Senegal bittet darum, telefonieren zu können, um bereits in Italien lebende Angehörige zu erreichen; er weiß nicht, wo, doch kennt er alle Telefonnummern auswendig. Wir hoffen, dass es ihm gelingt, den Kontakt mit ihnen herzustellen, wenn er erst mal im Aufnahmezentrum ist. Die Migranten drängen sich am Quai zusammen. Hier bekommen sie warme Decken, Plaids, Kekse und Wasser. Nicht nur an warmen Getränken, auch an Kleidern fehlt es anfangs; irgendwann trifft alles ein und alle können sich bedienen. Der allgemeine Eindruck ist der eines ruhigen Chaos, unterlegt vom Brummen der mächtigen Generatoren im Hafen und vom Motorlärm der Schnellboote; viel wird getan, doch das eine oder andere Defizit erscheint schon beinahe tragikomisch. Nach mehr als einer Stunde befinden sich noch Aberdutzende von Migranten am Quai; die zwei Busse von Lampedusa Accoglienza sind eindeutig zu wenig angesichts so vieler Menschen. Eine junge Frau vom Verein Askavusa und ihr Bruder kommen und bringen mehr Tee, den sie in der Küche ihrer Pizzeria gekocht haben, und wir verteilen ihn an die Migranten, die vom langen Warten an der Mole durchgefroren sind. Der Wind bläst weiterhin sehr stark und kalt. Nachdem die Frauen und Kinder aus der Stazione Marittima abgefahren sind, machen sich die jungen Leute von Askavusa gemeinsam mit anderen daran, das Hafengebäude so gut wie möglich zu reinigen. Später werden in der Stazione mindestens 30 Männer untergebracht, die weder im Aufnahmezentrum noch in der Loran-Basis Platz finden konnten, weil es an Kapazitäten fehlt. Gemeinsam mit den Leuten von Askavusa und anderen Einheimischen, darunter dem Pfarrer, bleiben wir, außerdem noch die Polizeikräfte; alle Mitarbeiter der Hilfsorganisationen sind schon gegangen. Kurze Zeit später kommt ein Bus mit rund 30 Personen zurück, die bereits zu den Aufnahmezentren unterwegs waren. Die Migranten lassen sich nieder und legen sich in der Stazione Marittima auf den Boden. Eine Frau aus Lampedusa beklagt sich darüber, welche Bedingungen die Migranten hier erwarten. Ein Polizeibeamter fährt sie auf übelste Art und Weise an. Einer vom Verein Askavusa mischt sich ein und unterstützt die Argumente der Frau, insbesondere kritisiert er die mangelhafte Organisation der Aufnahme. Der Ton wird schärfer und man trennt den Beamten und den jungen Mann. Ein anderer Beamter ergreift das Wort, er ist in der Polizeigewerkschaft aktiv und mit ihm beginnen wir eine ruhigere Diskussion. Eine junge Frau von Askavusa fängt an das Ganze auf Video aufzuzeichnen, doch wird sie sofort barsch aufgefordert, das sein zu lassen. Wir wollen wissen, warum es an allem hapert, wenn doch die bevorstehende Ankunft so vieler Migrantinnen und Migranten bereits seit fünf Uhr nachmittags öffentlich allseits bekannt war. Der Gewerkschafter gibt uns zwar in der Sache Recht, stellt sich aber auf den Standpunkt, dass all die Defizite, die wir anführen, für die öffentliche Sicherheit und Ordnung kein Problem darstellen und deshalb kein Fall für die Polizei sind. Er fordert uns auf, ein Memorandum zu verfassen und vorzulegen, das die Ereignisse darstellt, und bietet sich uns als Ansprechpartner an. Die Leute von Askavusa beschließen, diesen Vorschlag zu überdenken; wir schlagen dem Forum vor, sich mit Fulvio Vassallo Paleologo in Verbindung zu setzen. Wenig später kommt ein Kleintransporter von Lampedusa Accoglienza, der die Schuhe bringen soll, auf die die Migranten immer noch warten. Ungefähr um drei Uhr in der Frühe erscheint ein Mitarbeiter von Save the Children, der berichtet, dass die Situation der Migranten in den Aufnahmezentren noch schlimmer ist als die in der Stazione Marittima. Wenig später gehen wir nach Hause. Am nächsten Morgen bekommen wir von Save the Children die Information, dass es an der Cala Croce eine Anlandung gegeben habe, bei der die Küstenwache nicht zugegen gewesen sei, doch wissen wir darüber nichts weiter. Darüber hinaus erreicht uns, ebenfalls von Save the Children, eine Nachricht über eine vermutlich gegen acht Uhr bevorstehende Anlandung an der Cala Pisana, aber als wir gegen zehn dorthin kommen, ist nichts zu sehen. Leute, die seit den Morgenstunden dort an der Cala gearbeitet haben, erzählen uns, dass sie keinerlei Anlandung gesehen hätten. Nach unserer Schätzung müssten gegenwärtig (nach der Nacht vom 29. auf den 30. April) mindestens 1500 Migrantinnen und Migranten auf der Insel sein, Anlandungen am Morgen des 30. nicht mitgezählt.
Forum Antirazzista Palermo